Die Gehirnfessel

Jens Johler, geboren 1944 in Neumünster, aufgewachsen in Hamburg, lebt derzeit in Berlin. Er absolvierte zunächst eine Schauspielausbildung an der Münchner Otto-Falckenberg-Schule. Danach war er drei Jahre an den Städtischen Bühnen Dortmund engagiert. Anschließend studierte er VWL an der FU Berlin. Danach war Johler als Wissenschaftlicher Assistent tätig. Seit 1982 arbeitet er als freier Autor. Zu seinen Veröffentlichungen zählen Romane wie „Gottes Gehirn“ und das „Falsche Rot der Rose“, aber auch Essays und Erzählungen.

Der Text dieser Seiten ist ein Vorabdruck seines jüngsten, jetzt bei Ullstein erscheinenden Romans „Kritik der mörderischen Vernunft“, 544 Seiten, Berlin 2009

„Das Ziel Ihrer Forschung ist Gedankenkontrolle und Verhaltenssteuerung.“ – „Aber natürlich“, sagte Gronius, erstaunt über Trollers Naivität. „Was denn sonst?“ Ein Krimi über Hirnforschung. Im Vorabdruck

VON JENS JOHLER

Diethelm W. Gronius schloss die kastanienbraun gebeizte Tür zu seinem Institut auf, gab den Zahlencode in die Alarmanlage ein, schloss die Tür hinter sich und stieg die Stufen zu seinem Büro hinauf. Er war verärgert. Warum hatte er sich nur darauf eingelassen? Warum? Es war im Grunde eine Unverschämtheit, eine Zumutung. Er hatte sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, bildlich gesprochen, sie hatten ja nur telefoniert miteinander, er hatte gesagt, nein, Sonntag kann ich nicht, da bin ich gar nicht in Frankfurt, lassen Sie es uns auf den Montag legen, da habe ich Zeit, und außerdem ist am Sonntag niemand im Institut.

Aber dieser Troller hatte auf dem Termin bestanden, zumal das Interview schon in der nächsten Ausgabe von Fazit erscheinen sollte.

Gronius konnte das sogar verstehen. Schließlich hatte gerade jemand in Potsdam den Kollegen Ritter umgebracht, und am selben Tag hatte Laurenz Block in Bremen eine Paketbombe erhalten. „Hirnforscher sind offenbar eine bedrohte Spezies“, hatte er am Telefon zu Troller gesagt, und dann hatten sie beide über die Bemerkung gelacht, wobei ihm allerdings ein bisschen mulmig zumute gewesen war. Am Ende hatte er sich breitschlagen lassen, obwohl er eigentlich noch einen Tag länger mit León zusammen im Elsass hatte bleiben wollen.

Wieso der als Bayer den Namen León trug, war übrigens ein Rätsel. Wieso hatten diese einfachen Bauern aus Iffeldorf, Herr und Frau Hinterseer, ihren Sohn damals León genannt und nicht einfach Joseph oder Hans? Die Schulkameraden hätten ihn auch immer nur Leo genannt, sagte León, „und mir war’s grad recht, ich wollt ja als kleiner Bub auch nix zu tun haben mit dem komischen Akzent, erst nach der Ding – na, du weißt schon – nach der Pubertät hab ich’s schätzen gelernt, da hat fei auch der Max seinen Anteil daran g’habt, der hat ja unbedingt wollen, dass wir nach Höherem streben.“

Diethelm W. Gronius wurde immer ein bisschen eifersüchtig, wenn León von Max redete. Max war Leóns erste Liebe gewesen, das war zwar fünfzehn Jahre her, aber León bekam, ob nun mit Absicht oder nicht, jedes Mal einen verklärten Gesichtsausdruck, wenn er von Max erzählte, und gab damit zu verstehen, dass an die Dimension der Liebe, die die frühe Begegnung mit Max für ihn gehabt hatte, niemals etwas herankommen würde, weil damals die alles entscheidende Spur gelegt worden war.

Ein Interview mit Fazit bekam man nicht alle Tage, und das konnte bei der nächsten Verhandlung um eine neue Assistentenstelle oder einen weiteren Kernspintomografen die entscheidende Rolle spielen! So war es ja heutzutage. Die Wissenschaft musste ihre Haut zu Markte tragen. Der reine Forschergeist, getrieben von Neugier und Interesse, war passé. Der Elfenbeinturm war eingestürzt. Heute war Forschung Krieg, und nicht bloß ein Krieg Mann gegen Mann, in dem Intelligenz, Wissen und persönliche Fähigkeiten zählten, sondern ein Krieg der Organisationen und der Apparate. Wie viel Geld wurde in eine bestimmte medizinische oder biologische Forschung gesteckt, welcher wissenschaftliche Apparat wurde dafür aufgebaut, wie viele Forscher wurden in den Labors konzentriert, welches technologische Gerät wurde dafür angeschafft und sogar eigens dafür entwickelt? Das waren die Fragen, die zählten.

Und damit war die Presse zu einem bedeutenden Faktor für den Wissenschaftsbetrieb geworden. Public Relations! Da musste man sich eben auch mal an einem Sonntag mit dem Herrn Wissenschaftsredakteur verabreden, wenn der das wollte, und Troller hatte seine Drohung ungeniert ausgesprochen: „Entweder Sie machen es, oder ich gehe zum Kollegen Wilbrandt nach Freiburg, ganz wie Sie wollen.“ Damit war die Sache entschieden gewesen: Sonntag, heute, 11.30 Uhr im Institut.

Es war Sonntag, es war heute, und es war 11.38 Uhr. Diethelm W. Gronius stand auf, ging zum Fenster, schaute hinaus. Es war ein blödes Wetter da draußen, grau und freudlos. Es nieselte unentschieden vor sich hin. Der Himmel wusste offenbar nicht, was er wollte. Ein Auto bog langsam in die Straße ein. Das war er. Das musste er sein. Um diese Zeit verirrte sich sonst kaum jemand in diese Gegend. Gronius hatte sich damals, als er die Berufungsverhandlungen geführt hatte, ausbedungen, dass er diese Villa bekam, er wollte nicht tagein, tagaus in einem überheizten Neubau sitzen, mit niedrigen Decken und Rigipswänden. Die Villa war ihm wichtig gewesen, und er hatte sie bekommen. Der Nachteil war, dass sie keinen Pförtner hatten, sodass sie immer die Alarmanlage einstellen mussten, wenn sie das Haus verließen.

Ja, das war er. Er hatte geparkt, war ausgestiegen, hatte eine große, schwarze Aktentasche aus dem Fond geholt und kam jetzt auf das Haus zu. Er trug eine helle Jeans und eine schwarze Lederjacke.

Gronius beeilte sich, die Treppe hinunterzugehen, weil er den schrillen Klingelton hasste. Gerade noch rechtzeitig öffnete er die Tür. „Gronius“, sagte er, als er Troller hereinließ. Sie stiegen zusammen die Treppe hinauf in sein Büro und verständigten sich darüber, dass es ein Sauwetter war, dass es aber schlimmer hätte kommen können und dass sie beide den Sommer herbeisehnten. Er war nicht wirklich unsympathisch, dieser Troller. Ein bisschen ernst, ein bisschen bleich, hohle Wangen, Augen, aus denen man nicht schlau wurde, aber unsympathisch war er nicht. Er stellte seine Aktentasche auf einen Stuhl und holte das Aufnahmegerät heraus.

Was soll es werden?“, fragte Gronius, „ein Kurzinterview oder ein längeres? Eine Seite? Oder eher zwei oder drei?“ „Wir werden sehen“, sagte Troller. „Mindestens eine Seite, wahrscheinlich aber zwei. Wollen wir anfangen?“ Sie kamen gleich zur Sache. Es hatte den Mord an Professor Ritter und den Anschlag auf Laurenz Block gegeben, beide prominente Hirnforscher von internationalem Rang. Eine gewisse Unruhe machte sich unter den Kollegen breit. Die Zeitungen und Zeitschriften, die Fernsehsender und Rundfunkanstalten beschäftigten sich mit dem Thema und versuchten, es so spektakulär wie möglich aufzubereiten. Beide Fälle hatten ihre emotional aufwühlenden Seiten. Hier der grässliche Affenstuhlmord, dort der Tod eines unschuldigen Kindes. Ein ernst zu nehmendes Bekennerschreiben lag noch nicht vor, oder die Polizei hielt es unter Verschluss. Das große Rätsel: Wer war der Täter? War es ein Einzelner oder eine Gruppe? Und was war ihr – oder sein – Motiv?

„Daher meine erste Frage: Herr Professor Gronius, fühlen Sie sich bedroht?“ „Nun“, sagte er zögernd, „man macht sich so seine Gedanken. Angenehm ist es jedenfalls nicht, zu wissen, dass da draußen ein Mörder herumschleicht, der es offenbar auf Wissenschaftler meiner Disziplin abgesehen hat. Wie würden Sie sich fühlen, wenn jemand plötzlich Journalisten ermordete?“ „Nicht gut“, sagte Troller. „Aber es ist ein schlechtes Beispiel. Journalisten werden häufiger umgebracht, als Sie denken. Journalisten stochern in Wespennestern herum, sie berichten über Korruption, Geheimdienste, politische Morde, Mafiamethoden. Dafür werden sie bisweilen ermordet. Pro Jahr trifft es weltweit ungefähr fünfundsiebzig Journalisten. Wissenschaftler dagegen richten oft großen Schaden an, kommen aber fast immer gut dabei weg. Denken Sie an Fritz Haber, der das Senfgas erfand, das im Ersten Weltkrieg eingesetzt wurde. Oder an J. Robert Oppenheimer und Co, die Konstrukteure der Atombombe. Einstein schrieb einen Brief an Präsident Roosevelt und drängte ihn dazu, die Bombe zu bauen, und als er die zweihunderttausend Toten sah, bereute er es. Das ist Wissenschaft. Trial and Error. Aber ungestraft. Oder denken Sie an Ärzte wie Mengele und Kurt Blome, die in den Konzentrationslagern von Auschwitz, Dachau und Mauthausen die grausamsten Menschenversuche gemacht haben …“ „Moment mal!“ Das ging jetzt aber doch zu weit. Wollte der Herr Troller ihn und seine Kollegen etwa mit Mengele und Konsorten in einen Topf werfen, nur weil sie Wissenschaftler waren?

„Nun gut“, sagte Troller ungerührt und faltete seine Hände. Übrigens sehr schlanke, aber doch, wie es schien, kräftige Hände. „Das waren nur Beispiele, die üblichen, wie ich gern zugebe, für das Janusköpfige der Wissenschaft. Allerdings“, fügte er prüfend hinzu, „Menschenversuche machen Sie doch auch, oder?“ „Experimente mit Menschen, ja. Aber nur auf freiwilliger Basis.“ „Mit Gewaltverbrechern.“ „Alles freiwillig. Niemand wird gezwungen. Auch nicht mit dem Versprechen, dann früher entlassen zu werden, oder dergleichen. Wir geben unseren Versuchspersonen allerdings eine kleine finanzielle Entschädigung.“ „Na bestens“, sagte Troller, „aber steht Ihre Behauptung, dass die Menschenversuche, die Sie anstellen, auf freiwilliger Basis stattfinden, nicht im Widerspruch zu Ihrer Theorie?“ „Ich wüsste nicht, warum.“ Gut, dass ich nicht an einen Lügendetektor angeschlossen bin. „Nun ja, Ihre Theorie lautet doch, es gibt keinen freien Willen. Wie können Sie dann behaupten, die Gewaltverbrecher hätten sich freiwillig an den Versuchen beteiligt?“ Das war ein Einwand, der nicht von der Hand zu weisen war. Im Grunde konnte man gar nichts dagegen sagen. Man konnte nur sagen: Es war nicht freiwillig. Wir haben sie mit Geld gelockt, und sie sind uns in die Falle gegangen. Aber er würde sich hüten, so etwas zuzugeben. „Ja, also“, begann er zögernd, „Sie sprechen da einen Punkt an, der nicht ganz unwesentlich ist. Genau genommen müsste man sagen, die Probanden haben im Sinne unseres jetzigen Rechtssystems freiwillig gehandelt. Verstehen Sie?“

„Nein“, sagte Troller, „das verstehe ich nicht. Ich weiß nicht einmal, wie man nach Ihrer Theorie einen Unterschied machen kann zwischen einem Menschen, der mit vorgehaltener Pistole zu einem Experiment gezwungen wird, und einem anderen, der dem Lockruf des Geldes folgt. Der normale Mensch würde sagen, im ersten Fall handelt es sich um Zwang, im zweiten um einen Anreiz, aber nach Ihrer Theorie handelt es sich doch nur um zwei unterschiedliche Naturprozesse, die beide mit der gleichen Zwangsläufigkeit ablaufen. Nicht das Ich, sondern das Gehirn entscheidet, so heißt es doch in dem Manifest, zu dessen Autoren Sie gehören.“

Das Argument kannte Gronius schon aus Trollers Kommentar zu dem Manifest, das Ritter, Block, er und noch sechs andere Kollegen vor einem halben Jahr veröffentlich hatten. Natürlich wollten sie mit dem Titel „Der freie Wille ist eine Illusion“ auch die Öffentlichkeit provozieren, aber sie waren durchaus davon überzeugt, dass es an der Zeit sei, die Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu ändern. Wenn es keinen freien Willen gab – und die Hirnforschung konnte so etwas partout nicht finden –, dann konnte man doch nicht länger an einem Rechtssystem festhalten, das mit Begriffen wie Schuld oder Unschuld operierte! War es nicht angemessener und sogar menschlicher, einen Gewaltverbrecher als Kranken zu behandeln? Er konnte doch nichts dafür, dass sein Gehirn so war, wie es war. Ob nun aus genetischen Gründen oder aus Gründen der Erziehung, die gleich mächtig in die Programmierung von Hirnfunktionen eingehen, ist unerheblich. Ein kaltblütiger Mörder hat eben das Pech, eine so niedrige Tötungshemmschwelle zu haben. So lautete ein Abschnitt, den Heribert Ritter in das Manifest hineingeschrieben hatte. Und der Kollege Laurenz Block, mit dem Gronius vorhin noch telefoniert hatte, um ihm sein Beileid auszusprechen, hatte sogar einen Vorschlag für ein neues Rechtssystem eingebracht: Jede Tat bekommt ihren Preis. Wer immer sie begangen hat, aus welchen Gründen auch immer, hat diesen Preis zu zahlen. Mildernde Umstände kommen nicht mehr in Betracht. Wohl aber Sicherheitsverwahrung und Therapie. Und, ein Lieblingsgedanke von Block, Prävention. Das Verbrecherhirn erkennen, schon bevor es etwas verbrochen hat. Und dann: wegsperren.

Dr. Troller war ein entschiedener Gegner des Manifests gewesen. Und klug. Das musste Gronius ihm lassen. Er hatte Trollers Artikel heute Morgen noch einmal im Internet nachgelesen. Zum Beispiel seine Argumentation gegen diesen Satz, auf dem Laurenz Block bestanden hatte, und der ihm, Gronius, auch immer etwas merkwürdig vorgekommen war: Nicht das Ich, sondern das Gehirn entscheidet. Troller hatte diesen Satz brillant auseinandergenommen: Von einem (hirnlosen?) Ich zu sprechen, das vom Gehirn gesteuert wird, scheint mir ziemlich abenteuerlich zu sein. Vor allem aber: Wenn alle Prozesse im Gehirn mit Naturnotwendigkeit ablaufen – wer könnte dann überhaupt noch entscheiden? Entscheidungen kommen in naturgesetzlich ablaufenden Prozessen nicht vor. Entscheidet sich ein Apfel, vom Baum zu fallen? Entscheidet sich die Sonne, ihr Licht zur Erde zu schicken? Entscheiden sich die Flüsse, bergab zu fließen? Hier von Entscheidungen zu sprechen, ist Unsinn. Und ebenso ein Unsinn ist das rechtspolitische Programm der Hirnforscher. Denn wohin soll uns das führen? Dahin, dass wir in jedem Gerichtssaal einen Gehirnscanner aufstellen? Dahin, dass die Neurophysiologen den Platz einnehmen, den heute Psychologen und Psychiater besetzt halten? Dahin, dass wir den Verbrecher zur Strafe, die dann nicht mehr Strafe heißt, einer Gehirnoperation unterziehen? Im Übrigen wäre mit einem solchen Gesetzesprogramm jeder Moral der Boden entzogen. Jenseits von Schuld und Unschuld aber lautet die Moral nur noch: Lass dich nicht erwischen!

„Ich weiß“, sagte Gronius, um Troller von vornherein den Wind aus den Segeln zu nehmen, „dass Sie ein entschiedener Gegner unseres Manifests sind …“ Troller nickte. „… aber um darüber zu diskutieren, sind Sie ja heute nicht gekommen, oder?“ „Nur wenn Sie sich vorstellen könnten, sich öffentlich von diesem Manifest zu distanzieren.“ „Wie bitte?“ „Ich glaube, Sie haben mich ganz gut verstanden.“ „Wie kommen Sie darauf, dass ich so etwas tun könnte? Warum sollte ich?“ „Wäre das so abwegig?“ „Wer sind Sie?“, fragte Gronius zurück. „Der Papst? Die Inquisition?“ Der Mann war ganz offensichtlich nicht ganz richtig im Kopf. Aber so waren sie, die Journalisten. Größenwahnsinnig, alle miteinander. Und selbstgerecht.

„Nun ja“, sagte Troller mit einer beschwichtigenden Geste, „reden wir also über Ihre Forschung. Es geht dabei, wenn ich es recht verstanden habe, darum, wieweit Sie das Gewaltpotenzial eines Menschen am Zustand seines Gehirns ablesen können, ist das richtig?“ „Ja und nein“, sagte Gronius, um Zeit zu gewinnen. „Wir untersuchen das Gehirn von Gewalttätern, von Soziopathen, und unsere bisherigen Untersuchungen haben ergeben, dass bei allen Soziopathen eine stark verminderte Aktivität der Amygdala zu beobachten ist, also in dem Teil des Hirns, der zum limbischen System gehört und der etwa die Größe eines Mandelkerns hat, daher der Name.“ „Das limbische System ist für die Gefühlsverarbeitung zuständig …“ „… und die Amygdala“, fuhr Gronius fort, „hat zum Beispiel die Aufgabe, Ihnen Angst zu machen und Sie so vor leichtsinnigem und lebensgefährlichem Handeln zu bewahren. Angst baut Hemmschwellen auf. Diese Hemmschwellen sind beim Soziopathen extrem niedrig, weil seine Amygdala mangelhaft durchblutet ist.“ „Und Sie versuchen nun mit Ihrer Methode des Biofeedbacks, der Amygdala des Soziopathen auf die Sprünge zu helfen.“ „Richtig“, sagte Gronius. „Wir versuchen, unsere in ihrem Sozialverhalten schwer gestörten Probanden dahin zu bringen, dass sie mithilfe gewisser Konzentrationsübungen die Durchblutung ihrer Amygdala anregen und damit ihre Angstfähigkeit und ihre Hemmschwelle erhöhen. Ich weiß nicht – wollen wir uns das vielleicht mal praktisch anschauen? Wir können das Experiment doch einfach mal durchführen. Was halten Sie davon?“ So ganz begeistert schien Troller nicht von der Idee zu sein. Er schaute auf die Uhr, kratzte sich für einen Moment am Kopf, fuhr sich mit der linken Hand an die Stirn und massierte seine Schläfen, bevor er zögernd fragte: „Haben sie den Tomografen hier im Haus?“ Warum fragte er das? Hatte er so wenig Zeit mitgebracht? „Er steht unten in dem ehemaligen Salon.“ „Und“, fragte Troller, „Sie haben einen Verbrecher dort unten, einen Soziopathen?“ Ach da lag der Hund begraben! Der Herr Dr. Troller hatte Angst vor einem Verbrecher! „Nein“, sagte Gronius lachend, „nein, da unten ist niemand, wir sind ganz allein im Haus, ich dachte, Sie probieren es selbst einmal aus, es kann ja nichts passieren. Das Einzige, was ich Ihnen zumuten muss, ist, dass Sie sich ein paar unschöne Bilder anschauen. Das gehört zum Experiment dazu. Wollen wir?“ Troller warf erneut einen Blick auf seine Uhr, nickte, steckte das Aufnahmegerät ein und ging zu dem Stuhl, auf den er seine Aktentasche gestellt hatte. „Sie können die Tasche hierlassen“, sagte Gronius. „Wir kommen bestimmt nachher noch mal hier herauf.“

Aber Troller bestand darauf, sie mitzunehmen. Unten war alles vorbereitet. Der Computer war hochgefahren, ebenso das MRT-Gerät. Genau genommen handelte es sich um ein funktionales MRT, das noch feiner selektieren konnte. Troller brauchte nur die Lederjacke auszuziehen und die Metallteile abzulegen, die er bei sich hatte, und sich in dem von einer Glaswand abgeteilten eigentlichen MRT-Raum auf die ausfahrbare Liege zu legen, dann konnte es auch schon losgehen. Gronius schloss den Journalisten an die Messapparaturen an und schob ihn dann in die Röhre hinein wie eine Weihnachtsgans in den Ofen. Na ja, so ähnlich. Der Kopf kam am anderen Ende wieder heraus. „Alles okay?“ „Alles okay.“

„Gut“, sagte Gronius. „Dann setzen wir Ihnen nur noch die Spule auf.“ Die Spule war eine Art gitterförmiger Helm, der von oben über das Gesicht gesetzt wurde und Nase, Mund und Augen frei ließ. „Sie haben einen Bildschirm über sich. Ich zeige Ihnen jetzt ein paar Fotos, das gehört zum Experiment. Es sind abwechselnd ganz normale Urlaubsfotos, Landschaften, Tiere, Gruppen von friedlichen Menschen oder Ähnliches, und dann auch wieder sehr unschöne Bilder, Gewaltszenen, Tod, Blut und Schrecken, und während Sie darauf schauen, zeichnen wir auf, was Ihre Amygdala so macht. Sind Sie bereit?“ „Ja.“ „Gut. Dann los.“ Er verließ den Raum mit dem MRT-Gerät und nahm hinter der Glaswand am Computer Platz. Jetzt kam der interessante Teil. Er spielte Troller die Bilder auf den Monitor, zunächst die friedlichen wie eine Meeresbucht mit Segelschiffen oder Schafe auf einer Wiese, und dann die grausamen: einen Soldaten mit zerschossenem Bauch, aus dem die Gedärme heraushingen; eine Frau, die von zwei Männern brutal vergewaltigt wird; die Leiche eines Kindes mit einer zerrissenen Puppe daneben; den Schauplatz eines Selbstmordattentats – Leichenteile, Gliedmaßen, Rümpfe, schreiende Menschen. „Ich sehe die Bilder.“ „Aber ich sehe nichts. Ihre Amygdala reagiert nicht auf die Bilder“, sagte Gronius mit Staunen und Erschrecken in der Stimme. „Tatsächlich?“ Troller klang mehr interessiert als erschrocken. Es war sein Standardscherz, Gronius machte ihn fast immer, wenn er das Experiment mit einem Studenten oder einem Journalisten durchführte, aber diesmal ging der Scherz nach hinten los. Die Durchblutung war tatsächlich ziemlich schwach. Wahrscheinlich war der Journalist zu abgebrüht und kannte solche Bilder viel zu gut, um davon noch berührt zu sein. Außerdem – Moment mal!

Er blätterte am Computer ein paar Aufnahmen zurück, auf denen die Schädelbasis genauer zu sehen war, da war doch – da war – oder täuschte er sich? – nein, kein Zweifel, das war ein Tumor. Und nicht gerade klein. Große Murmel. Wachtelei. Mann Gottes, da konnte man ja nur noch hoffen, dass der nicht bösartig war! Wenn das Krebs war, dann gute Nacht. Aber es sah mehr nach einem Meningeom aus, klare Umrandung, nicht ausgefranst, ein Glioblastom war’s nicht, soviel er auf den ersten Blick sagen konnte. Aber trotzdem! Der muss doch Kopfschmerzen haben wie ein Verrückter!

Obwohl, es gab auch Leute, die einen Tumor hatten und nicht das Geringste davon mitbekamen. Bis eines Tages alles explodierte, bildlich gesprochen. Ich muss es ihm sagen. Aber jetzt nicht. Später. Beim Abschied würde er beiläufig bemerken, Sie sollten vielleicht mal zum Arzt gehen, Herr Troller. Es könnte sein, dass es in Ihrem Hirn eine kleine Anomalie gibt. Mehr kann ich Ihnen darüber nicht sagen, ich bin kein Arzt. Und dann mit gütigem oder verschwörerischem Augenzwinkern: Lassen Sie sich mal durchchecken. Andererseits – durfte er als jemand, der nur ein Experiment zu Demonstrationszwecken gemacht hatte, Troller überhaupt etwas davon sagen? Das war so ein Problem, über das die Neuroethiker nachdachten. Er hatte darüber vor ein paar Wochen mit Krauthammer in München diskutiert, und Krauthammer hatte sich entschieden für das Recht auf Nichtwissen starkgemacht.

Ca. 1700 v. Chr.: Das „Edwin Smith Papyrus“ wird als ältestes Dokument einer Beschreibung des Gehirns niedergeschrieben. 460-379 v. Chr.: Hippokrates erklärt, dass Empfindungen und Intelligenz im Gehirn verankert sind und dass Epilepsie eine Störung der Hirnfunktion ist. 1504: Leonardo da Vinci fertigt Wachsausgüsse des menschlichen Gehirns an. Damit beweist er, dass das Gehirn ein zusammenhängendes Gebilde ist. 1664: Thomas Willis veröffentlicht „Cerebri anatome“. Er interpretiert erstmals die Hirnsubstanz als Sitz höherer geistiger Funktionen. 1861: Der Pariser Chirurg Paul Broca vermutet laterale Differenzierungen der Hirnrindenfunktion. 1929: Hans Berger veröffentlicht erste Befunde, die er mit dem Elektroenzephalogramm (EEG) am Menschen gewonnen hat. 1960: Roger Sperry und Michael S. Gazzaniga beobachten Wahrnehmungs- und Verhaltensdefizite bei Patienten, deren Gehirnbalken durchtrennt werden musste. 1970er: Paul Christian Lauterbur und Peter Mansfield entwickeln die Magnetresonanztomografie (MRT), ein bildgebendes Verfahren, das es ermöglicht, Schnittbilder des lebenden Gehirns anzufertigen. 1983: Benjamin Libet beginnt seine Serie von Experimenten am menschlichen Gehirn, die die Frage nach der Willensfreiheit betreffen. 1990: Siege Ogawa entwickelt die nichtinvasive Technik der funktionellen Kernspinresonanztomografie (fNMR, fMRI, BOLD-MRI), mit der das regionale Muster des Blutflusses im Gehirn beobachtet wird. 1995: Vittorio Gallese und Giacomo Rizzolatti entdeckten Spiegelneuronen bei Affen. 1997: Mithilfe des sogenannten Positronenemissionstomografen (PET) beweist die Neurologin Eleanor Maguire, dass fast jede Tätigkeit erkennbare Spuren im Gehirn hinterlässt. 2008: Der kanadische Neurowissenschaftler Daniel Ansari findet heraus, dass bei Kindern, die unter einer Rechenschwäche (der sogenannten „Dyskalkuli“) leiden, der parietale Kortex, der unter anderem für das räumliche Vorstellungsvermögen zuständig ist, anders arbeitet. SASCH

Troller war ja nicht zu ihm als Arzt gekommen. Er wollte ein Interview. Und jetzt soll er auf einmal erfahren, dass er einen Tumor hat? Er ging hinüber, nahm die Spule von Trollers Kopf, drückte den grünen Button am anderen Ende des Kernspintomografen, und mit einem surrenden Geräusch fuhr die Liege mit dem Journalisten aus der Röhre heraus. „Also“, begann Gronius, als Troller seine Lederjacke wieder anzog und Uhr, Schlüsselbund, Kugelschreiber und Autoschlüssel wieder an sich nahm. „Ihre Amygdala war zwar weniger durchblutet, als ich es erwartet hatte, aber ein bisschen Selbstschutz ist in manchen Berufen ja durchaus von Vorteil, nicht wahr?“ So ganz geheuer bist du mir trotzdem nicht. „Es erlaubt einem vielleicht, klarer zu denken“, sagte Troller mit einem etwas schmallippigen Lächeln. Er näherte sich Gronius, offenbar in der Absicht, selbst einen Blick auf den Bildschirm zu werfen, und Gronius machte, ohne es zu wollen, eine abwehrende Geste, auf die Troller mit einem Stirnrunzeln reagierte. „Können Sie mir eine CD von diesen Aufnahmen brennen?“, fragte er. „Nun“, sagte Gronius ausweichend. „Diese MRT-Aufzeichnungen sind eigentlich …“ Eigentum des Instituts, wollte er sagen, wurde aber von Troller in scharfem Ton unterbrochen. „Tun Sie’s einfach.“ Es klang nicht nur so, es war ein Befehl. „Sie bekommen nachher eine Kopie“, versprach Gronius. „Gut“, sagte Troller. „Mich interessiert noch eine Frage: Warum sollten Ihre Probanden, die ja wohl, wenn ich es recht verstanden habe, Schwerverbrecher sind, ein Interesse daran haben, ängstlicher oder mitfühlender zu werden? Ich nehme mal an, die sehen die Bilder und fühlen dabei nichts, vielleicht noch weniger als ich. Aber warum sollte ich, wenn ich dabei nichts fühle, irgendwelche Anstrengungen dafür unternehmen, dass ich etwas fühle?“

Dumm war er wirklich nicht, der Herr Dr. Troller. Das war nämlich in der Tat ein zentrales Problem. Wie kriegt man diese abgestumpften Kerle dazu, sich auf ein solches Experiment einzulassen? „Ich habe es ja bereits erwähnt“, sagte Gronius. „Wir geben ihnen finanzielle Anreize. Das ist nun einmal das Einzige, womit wir sie ködern können. Wir packen sie bei ihrem egoistischen Interesse, um sie zum Mitgefühl zu bringen.“ „Der Proband bekommt also Geld. Und dann?“

Dann machen wir unsere Biofeedback-Übungen. Wir zeigen die Bilder, so wie bei Ihnen eben, und sagen: Jetzt stellt euch mal vor, ihr seid als Opfer inmitten einer Gruppe, die von einem Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt wird. Stellt euch das mal ganz plastisch vor. Und so weiter. Und dann spielen wir ihnen zugleich den Zustand ihrer Amygdala vor, und zwar – sehen Sie hier“, er drückte auf eine Taste am Computer, eine Art Streifenmuster erschien auf dem Bildschirm, grüne und rote Streifen, „wenn die Probanden einen grünen Streifen sehen, dann heißt das: zu geringe Durchblutung. Sehen sie dagegen den roten Streifen, dann heißt das: hohe Durchblutung. Und mit der Zeit lernen sie dann, durch eigene Konzentrationskraft, den Zustand ihrer Amygdala zu verändern. Ist das nicht faszinierend?“ „Zweifellos“, sagte Troller. „Und zwar vor allem, weil auch dies wieder der These widerspricht, die Sie und Ihre Kollegen in Ihrem Manifest so entschieden vertreten. Im Manifest sagen Sie, dass nicht das Ich entscheidet, sondern das Gehirn. Nun aber scheinen der Wille und die Konzentrationsübung doch gerade umgekehrt das Gehirn zu beeinflussen.“

Ja, doch, auf den Gedanken war er natürlich auch schon gekommen. Und im Unterschied zu den Kollegen Ritter und Block war er sich in der Frage des freien Willens nicht ganz so sicher. Er wusste nur nicht, wie etwas Immaterielles wie Geist auf die Materie wirken konnte. In einer Welt der Ursachen und Wirkungen war einfach kein Platz dafür, sosehr die Menschen sich auch subjektiv einbildeten, sie hätten einen freien Willen. Das war das Dilemma.

„Es ist allerdings so“, wandte er ein, „dass gerade wir Hirnforscher immer wieder betonen, dass die Architektur unseres Gehirns auch und wesentlich von der Erfahrung geprägt wird. Erfahrung hinterlässt Strukturen. Ein Erlebnis schafft synaptische Verbindungen, die möglicherweise von großer Dauerhaftigkeit sind. Ein böses Wort, das Sie einem Kind sagen, kann schlimmere Wirkungen haben als ein Faustschlag. Denken Sie immer daran!“ „Das will ich gern tun“, sagte Troller und lächelte wieder. Er lächelt, aber die Augen lächeln nicht mit. „Aber“, fuhr Troller fort, „Ihr Ziel ist es, das Gehirn nicht nur durch Konzentrationsübungen zu beeinflussen, sondern auch durch direkte Stimulation. Hab ich recht?“ „Wir denken an Implantate“, gab Gronius zu. „Aber das ist Zukunftsmusik.“ „Wieso eigentlich? Hirnimplantate gibt es doch längst. Elektroden für Parkinsonkranke. Chips für Querschnittsgelähmte.“ „Ich rede von der Amygdala. Eine Tiefenhirnstimulation der Amygdala des Menschen ist, soweit ich weiß, noch nicht versucht worden. Aber es wäre natürlich ein großer Fortschritt. Stellen Sie sich vor, Sie könnten die Amygdala eines potenziellen Gewalttäters mithilfe von Elektroden stimulieren. Und sie könnten es von außen tun, funkgesteuert, mithilfe eines kleinen Apparats, der immer dann aktiv wird, wenn der Proband eine Gewaltfantasie hat oder eine Gewalttat verüben will. So eine Art automatische Rückkoppelung, verstehen Sie? Die Gewaltfantasie löst eine elektrische Stimulation der Amygdala aus, die Stimulation der Amygdala löst einen Angstschub aus, die Gewaltfantasie bricht in sich zusammen und wird durch friedliches soziales Verhalten ersetzt.

Wäre das nicht eine großartige Sache? Man kennt im Strafvollzug schon die elektronische Fußfessel. Dies hier wäre dann so etwas wie eine elektronische …“ „…Gehirnfessel.“ „Sie sagen es.“ „Mit anderen Worten, das Ziel Ihrer Forschung ist Gedankenkontrolle und Verhaltenssteuerung.“ „Aber natürlich“, sagte Gronius, erstaunt über Trollers Naivität. „Was denn sonst? Wenn wir einen Parkinsonkranken behandeln wollen, dann ist das doch der einzige Weg! Der Kranke hat die Kontrolle über seinen Körper verloren, sein defektes Gehirn schüttelt ihn – und wir pflanzen ihm Elektroden ein und geben ihm einen Apparat in die Hand, mit dem er sein Gehirn davon abhalten kann, ihn zu schütteln. Wenn Sie das Gedankenkontrolle nennen wollen …“ Er zuckte mit den Achseln.

Die Apparate, mit denen Sie arbeiten“, sagte Troller und zeigte auf das Logo der Firma Braintech, das am MRT-Gerät deutlich sichtbar angebracht war, „diese Apparate beziehen Sie bei der Firma Braintech. Nach unseren Informationen erhält Ihr Institut auch beachtliche Fördermittel von dieser Firma. Ist das korrekt?“ – „Ja. Wir bekommen beachtliche Fördermittel von Braintech. Und wir sind dieser Firma sehr dankbar dafür.“ „Hat die Firma Siemens, mit der Sie früher zusammengearbeitet haben, Ihrem Institut auch Fördermittel zukommen lassen?“ „In geringerem Maße, ja.“ „Hat dieser Wechsel von der einen Firma zur anderen auch etwas mit dem gut dotierten Beratervertrag zu tun, den Sie persönlich mit der Firma Braintech abgeschlossen haben?“

Verdammt. Woher wusste er das? Gronius hatte mit Braintech darüber strengste Geheimhaltung vereinbart. Vertraulichkeit war sogar Bestandteil des Vertrages. Und nun wusste die Presse davon? Das musste er sich nicht bieten lassen. Er hätte diesen Kerl sofort an die Luft setzen sollen. Spätestens nach dem Experiment. „Sie wissen wohl auch, dass Sie zu weit gehen, oder?“ „Nun ja, ich würde gern noch etwas weiter gehen.“

Schon wieder dieses Lächeln. Er sah, wie Troller zu dem Stuhl ging, auf dem er seine Aktentasche abgestellt hatte. „Schluss!“, sagte Gronius entschieden. Aber seine Stimme hatte nicht die Festigkeit, die er sich wünschte. Troller hatte ihm den Rücken zugewandt und machte sich an seiner Aktentasche zu schaffen. Als er sich umdrehte, hielt er eine Pistole in der Hand, so ein langes Ding mit einem Schalldämpfer, und dieses lange, schwarze, drohende Ding war genau auf Gronius gerichtet. Trollers Gesicht zeigte keine Emotion. Er sah kalt, sachlich und entschlossen aus.

JENS JOHLER, Jahrgang 1944, ist freier Autor und lebt in Berlin