Der seltsame Eifer der Etagendame

FLEXIBILITÄT Ostler kennen die Krise. Aus Angst um ihren Job halten sie sich seit zwanzig Jahren geschmeidig. Nun ziehen die Westler nach

Die Ersten, die ihre sozialstaatliche „Insel der Seeligen“ verloren haben, waren die Westberliner

VON HELMUT HÖGE

Angeblich kommen die Ostdeutschen besser als die Westdeutschen mit gesellschaftlichen Umbrüchen klar, weil sie bereits einen solchen durchgestanden haben. Dies trifft, wenn überhaupt, eher auf Frauen als auf Männer zu. Weil sie sich nicht so wie diese auf eine bestimmte qualifizierte Tätigkeit festgelegt haben, trauen sie sich eher zu, auch ganz andere Arbeiten zu übernehmen, wenn es nicht anders geht.

Nicht ohne Grund schickten die West-Exekutoren der Wiedervereinigung als erstes Millionen ältere Arbeitnehmer im Osten in den „Vorruhestand“. Ihnen traute man am wenigsten zu, sich der neuen Ökonomie anpassen zu können.

Die größere „Fähigkeit“ zur Flexibilität ist jedoch nicht nur positiv, denn sie besteht vornehmlich darin, sich immer wieder neuen Sachzwängen zu unterwerfen. Und tatsächlich haben viele Ostler sich durch ihren Übereifer nicht gerade beliebt gemacht bei ihren neuen Westkollegen. So kontrollieren die aus dem Osten stammenden Etagendamen in einigen Berliner Nobelhotels selbst an ihren freien Tagen die Arbeit der Zimmermädchen, besonders wenn ein prominenter Gast erwartet wird. Und bei Osram musste der Betriebsrat einmal eine Meisterin aus dem Osten rügen, weil sie ihre Mitarbeiter zu sehr gescheucht hatte. Hier setzten auch zwei Arbeiterinnen aus Friedrichshain gegenüber dem Betriebsrat durch, dass sie trotz Frauennachtarbeitsverbot zu Nachtschichten eingeteilt wurden – weil sie unbedingt das Geld brauchten. Für einen Urlaub auf Teneriffa.

So mancher Ostler stöhnt zwar an seinem neuen Westarbeitsplatz: „Nie hört der Nachschub auf!“ (Im Osten musste man dafür kämpfen, auch bei stockendem Nachschub weiter entlohnt zu werden.) Aber die meisten, so scheint es, lassen sich mehr gefallen als Westler. Etwa als es darum ging, ob man auch im Osten nach dem Vorbild Polens „Sonderwirtschaftszonen“ (SWZ) einführen sollte, warnte der DGB-Vorsitzende von Frankfurt/Oder, dadurch würden die neuen Ländern zu „Indianerreservaten“ gemacht – „ohne Rechte für die Beschäftigten“.

Dass solche oder ähnliche Stimmen Gewicht haben, ist für einige Minister in der polnischen Regierung ein Indiz dafür, dass Deutschland und speziell die ehemalige Ostzone im Gegensatz zu Polen immer noch viel zu „sozialistisch“ sei. Dabei ist das Gegenteil der Fall, wenn man dem deutschen EU-Abgeordneten Ulrich Stockmann glauben darf, der sagt: „Die meisten Merkmale einer SWZ erfüllt der Osten ohnehin schon. Eine explizit ausgewiesene SWZ würde deshalb keine nennenswerten Veränderungen bedeuten“.

In anderen Worten: In Ostelbien sind die Beschäftigten bereits weitgehend ohne Rechte. Dieses „Reservat“ hat sich jedoch zur Freude der Unternehmer längst nach Westen ausgedehnt.

Stummes Stullenessen

Die Ersten, die ihre sozialstaatliche „Insel der Seligen“ verloren haben, waren die Westberliner. Hüben wie drüben veraltete Technologie und unterqualifizierte, störrische Arbeitskräfte, meinte Bundesbanker Thilo Sarrazin in einem Interview. Er setzt deswegen seine Hoffnungen auf eine neue „Elite“, die er aus dem Osten nach Berlin strömend sieht. Aus weiter Ferne allerdings: Er denkt dabei vor allem an „Russen“ und „Juden“.

In Russland wie in Ostdeutschland gibt es jedoch eine Gruppe, die sich auch im neuen Wirtschaftssystem als nur allzu erfolgreich erwies: die letzten Komsomol-Jahrgänge. „Wer früher karrieristisch war, der hat es auch im neuen System geschafft, schnell Karriere zu machen“, so urteilte ein Bundeswehrsoziologe über junge NVA-Offiziere.

Viele, die guten Willens waren, scheiterten aber am neuen Betriebsklima. Immer wieder hört man von Ostlern Geschichten wie diese: „Morgens haben wir im Steglitzer Betrieb erst mal in der Kantine Kaffee getrunken. Mein Kollege, auch aus dem Osten, und ich, wir waren die Einzigen, die sich unterhalten haben, alle anderen aßen stumm ihre Stullen und lasen dabei BZ. Das war schrecklich!“

Der soziale Zusammenhang war in den Ostbetrieben besser – er ließ sich jedoch nicht ohne weiteres bei der Verwestlichung erhalten. Selbst in Betrieben, in denen mehrheitlich Ostler arbeiteten, gelang es den Betriebsorganisatoren des Kapitals schnell, die gewünschte Atomisierung der Belegschaft zu erreichen. Im toyotistisch organisierten Eisenacher Opelwerk etwa wurde und wird nicht mehr in „Brigaden“, sondern in siebenköpfigen „Teams“ mit von außen eingesetztem „Teamleiter“ gearbeitet. Sie sollen durch die Selbstorganisation ihrer Arbeitspensen nebst ständigen Verbesserungsvorschlägen kontinuierlich ihr Arbeitstempo erhöhen. Zwar zieht das „Team“ mal einen mit, der verkatert ist, zu Hause Probleme hat oder einfach mal einen schlechten Tag erwischt hat. Aber jemand, der dauernd zu spät kommt oder dessen Einsatzfreudigkeit kontinuierlich nachlässt – und der so die Teamleistung drückt, wird von seinen Kollegen rausgedrängt. „Da können wir dann auch nichts mehr machen,“ meint der Betriebsrat. Eisenachs IG-Metall-Chefin beklagt sich dagegen über den Betriebsrat, weil der sich zu wenig für seine Leute einsetze.

Das „Betriebsklima“ ist im Vergleich zu früher „kälter“ geworden, kann man unterm Strich sagen. Die Ostler beklagen das immerhin noch. So etwa in den Gesprächen, die Hans-Joachim Neubauer im Berliner Gefängnis Tegel mit Inhaftierten führte. Einer, der schon in der DDR im Knast war, meinte: „Bei uns gab es früher mehr Zusammenhalt, so wie eine Verständigung über Klopfzeichen. So etwas gibt es hier auch nicht.“

Als die Bergarbeiter der Kaligrube „Thomas Müntzer“ in Bischofferode gegen die Abwicklung ihres profitablen Werkes mit einem Hungerstreik und vor der Treuhandanstalt in Berlin protestierten, wurde mit allen politischen und polizeilichen Mitteln, unter anderem mit Agents Provocateurs, versucht, die damals schnell anwachsende Organisation des Widerstands gegen die Abwicklung von DDR-Betrieben zu zerschlagen.

Der für die Bergbaubetriebe zuständige Treuhandmanager Klaus Schucht erklärte im Spiegel: „Wenn man den Widerstand in Bischofferode nicht bricht, wie will man dann überhaupt noch Veränderungen in der Arbeitswelt durchsetzen?“

Die Integration der Ostler hat zu immer demütigenderen Arbeitsverhältnissen geführt

Vom dem DDR-Dramatiker Heiner Müller stammt die damalige Einschätzung: „Erst mit der Wiedervereinigung ist wieder Klassenkampf in Deutschland möglich.“ Aber derartige Ansätze im Osten wurden schnell im Keim erstickt, obwohl oder weil sie durchaus von Arbeitern im Westen unterstützt wurden. Dafür wurde auf der anderen Seite der Klassenkampf von oben umso massiver forciert – bis hin zu rassistischen Argumentationen (zuletzt von Sarrazin) und der Charakterisierung von „Ostdeutschen“ als kommunistisch debilisiert, tendenziell neonazistisch beziehungsweise ausländerfeindlich verbrettert und eigentlich sowieso unbrauchbar.

Auch dies erinnert an die in „Reservate“ abgedrängten Indianer. Das begann schon gleich nach dem Zusammenbruch des Sozialismus, der im Übrigen nicht an der „Unfreiheit“, sondern an der zu großen Freiheit – im Produktionsbereich nämlich – zugrunde ging. Da empfing ein Treuhandmanager eine Gruppe von Betriebsräten in seinem Büro – und hatte die Beine auf dem Schreibtisch. Auf ihr Erstaunen hin erklärte er: „Ja, das kennt ihr noch nicht. Das ist jetzt der neue amerikanische Stil.“ Als er zurückgeduzt wurde, verbat er sich dies jedoch aufs Schärfste.

In Summa: Die Integration der Ostler, die inzwischen auch von weit hinter dem Ural kommen, hat in der hiesigen Wirtschaft zu immer demütigenderen Arbeitsverhältnissen geführt. Für die nicht in den Vorruhestand Entlassenen unter ihnen wurde ein gigantisches Umschulungswerk im Osten aufgebaut, das sich im Laufe der Zeit auch auf den Westen ausdehnte.

Der Regisseur Harun Farocki hat mehrere Jahre diese deutsch-deutsche Reeducation-Maßnahme begleitet – und daraus drei aufklärerische Filme gemacht: „Leben BRD“ (1990), „Die Umschulung“ (1995) und „Die Bewerbung“ (1997). In den dort dargestellten Bildungszentren wird den Teilnehmern unter anderem beigebracht, wie man sich richtig bewirbt. „Sie müssen lernen, sich besser zu verkaufen!“, heißt es. Es sind videogestützte Auftritts-Schulungen, in denen das wirkliche Leben geübt werden soll – für eine neue Gesellschaft, die laut Harun Farocki vollständig auf ihr Abbild hin organisiert ist.

Einseitiger Klassenkampf

„Angst haben alle“, sagt einer der Ausbilder in dem Film „Umschulung“. Der vom Arbeitsamt bezahlte Kursus dient denn auch zur Bekämpfung dieser Existenzangst, die inzwischen einschließlich der Umschulungskurse ganz Westdeutschland erreicht hat. Forciert wird sie noch laufend durch Kündigungen aus den nichtigsten Anlässen: Einer Supermarktkassiererin, weil sie drei Pfandbons nicht abgerechnet hat, einer Arbeiterin, weil sie sechs übrig gebliebene Maultaschen mitgenommen hat, und einem Arbeiter, weil er einige Pappen aus dem Abfall als Umzugskartons für seine Tochter mitnahm. Diese von Arbeitsgerichten juristisch abgesegneten Entlassungen zeigen, auf welchem Niveau und von wem die Klassenkämpfe seit der Wiedervereinigung geführt werden.

Helmut Höge ist taz-Autor. 1947 in Bremen geboren, lebt er heute in Westberlin