„Ihre Perspektive einnehmen“

RAT Eine Pflegeforscherin erklärt, womit man dementen Angehörigen hilft – und womit nicht

■ ist Professorin für Pflegewissenschaft an der Universität Witten/Herdecke und Sprecherin des Nationalen Demenzzentrums www.dzne.de. Fotos: privat

taz: Frau Bartholomeyczik, sind Familien von Dementen zwangsläufig überfordert?

Sabine Bartholomeyczik: Menschen mit Demenz leben irgendwann in einer Welt, die für uns nicht mehr so einfach nachvollziehbar ist. Der Gedächtnisverlust macht es schwer, sich zu orientieren, Leute zu erkennen. Sie wissen nicht mehr, was sie tun sollen, wo sie sind. Sie meinen, sie müssten ihre Kinder von der Schule abholen, dabei sind die Kinder längst erwachsen. Die meisten entwickeln ein Verhalten, das wir herausfordernd nennen, manche laufen etwa nachts auf die Straße, schreiend.

Was können die Angehörigen tun?

Sie müssen versuchen, die Perspektive dieses Menschen einzunehmen, um herauszufinden, warum er schreit, was ihn bewegt. Häufig werden Schmerzen übersehen, es kann auch Hunger sein, eine Aufregung. Deshalb ist es gut, wenn man die Person gut kennt, um zu überlegen: Woran könnte das liegen?

Gerade die enge Beziehung treibt aber viele in den Wahnsinn.

Deshalb ist es nötig, das auf mehrere Schultern zu verteilen. Man kann sich dann gemeinsam hinsetzen und fragen: Woher kommt das, dass unsere Mutter versucht wegzurennen?

Manche Angehörige fühlen sich zu wenig informiert.

Es gibt viele Broschüren, auch im Internet, die Alzheimer-Gesellschaft. Trotzdem fühlen sich die Leute häufig alleine gelassen. Anfangs denkt man ja nicht, man brauche intensive Hilfen. Aber gerade da wäre der Beginn einer kontinuierlichen Beratung wichtig. So etwas gibt es mit den Pflegestützpunkten, die Pfleger, Altenhelfer und Kassen vernetzen. Ganz wichtig ist aber, dass sie auf die Betroffenen zugehen und nicht warten, bis jemand anfragt.

In den Niederlanden gibt es ein Dorf für Demente. Sinnvoll?

Da gibt es Läden, die das Kaufen simulieren. Dass Simulation für Menschen mit Demenz hilfreich sei, behaupten derzeit einige. Manche Altenheime bauen sich vor die Tür eine Bushaltestelle. Nur kommt kein Bus. Die Leute merken aber sehr wohl, dass man ihnen etwas vormacht.

Therapeutische Verarsche?

Eine Missachtung der Person. Man muss sich mit den Menschen beschäftigen und sie nicht an eine Fake-Haltestelle setzen.

INTERVIEW: JOHANNES GERNERT