„Wir nennen die Dinge beim Namen“

NEUE TAGESZEITUNG „Il fatto quotidiano“ ist publizistischer Hoffnungsträger Italiens. Ein Gespräch mit Chefredakteur Marco Travaglio

■ wurde 1964 in Turin geboren. Er ist renommierter Journalist, Publizist und Schriftsteller. Seine Texte erschienen bei La Repubblica, L’Espresso und Unità. Seine Themen sind die Mafia, Justiz und Politik und insbesondere die Regierung Berlusconi. Seit 2009 ist er Vizedirektor der italienischen Tageszeitung Il fatto quotidiano.

■ Il fatto quotidiano escheint seit September 2009. Der Name der Zeitung ist dem Journalisten Enzo Biagi gewidmet, den Berlusconi aus dem Dienst des TV-Senders RAI entließ. Biagis politische Show hieß „Il Fatto“.

taz: Die italienische Tageszeitung Il fatto quotidiano startete im September 2009. Welches Auflagenziel hatten Sie damals?

Marco Travaglio: Wir wollten bei der verkauften Auflage ein Minimum von 12.000 Stück pro Tag erreichen. Als wir dann schon vor dem Start 30.000 Abos verkauft hatten, haben wir unser Ziel – bei dem wir schwarze Zahlen geschrieben hätten – auf 25.000 erhöht. Glücklicherweise verkaufen wir fünfmal so viel; im Freiverkauf gehen täglich über 70.000 Exemplare weg, dazu kommen 40.000 Abonnements.

Andere Zeitungen müssen schließen oder kämpfen mit drastischen Auflagenrückgängen. Sie dagegen können eine in Europa derzeit wohl einzigartige Erfolgsgeschichte verbuchen. Was ist das Geheimnis?

Wir schreiben die Nachrichten, die die anderen nicht bringen, entweder weil sie nicht wollen oder es sich nicht erlauben können. Wir nennen die Dinge beim Namen, unsere Sprache ist einfach und direkt, wir verstecken Fakten nicht hinter politisch-journalistischem Jargon. Und da wir keinen „Padrone“ haben, keinen Verleger, der uns Vorschriften machen kann, zweitens von Werbekunden nicht erpresst werden können, da wir wenig Werbung haben, und drittens keine staatlichen Subventionen kriegen, sind wir niemandem Rechenschaft schuldig – außer unseren Lesern. Wir können uns mit den großen Banken und der Industrie anlegen. Der Stromversorger ENEL hat uns zum Beispiel die Werbung im Blatt gestrichen, weil wir kritisch über den Börsengang ihres Tochterunternehmens ENEL Green Power berichtet hatten. Wir können so etwas mühelos verkraften. In den ersten Monaten hatten wir 21 Millionen Euro Erlös durch den Zeitungsverkauf und nur 486.000 Euro Werbeeinnahmen.

In Italien genießen Zeitungsverlage, die als Genossenschaft organisiert sind, staatliche Subventionen. Warum sind Sie diesen Weg nicht gegangen?

Wir glauben, dass eine Zeitung dann Sinn hat, wenn sie sich bei den Lesern durchsetzt. Außerdem werden die subventionierten Zeitungen erpressbar. Jedes Jahr erwägt die Regierung, sie zu kürzen oder ganz zu streichen – und jedes Jahr kann man besichtigen, wie der Ton der subventionierten Blätter gegenüber der Regierung vorsichtiger wird.

Mit oder ohne Subventionen – auf Papier gedruckte Zeitungen gelten als Auslaufmodell. Jüngere Menschen sind im Internet und nicht vorm Zeitungskiosk.

Wir haben insgesamt eine recht junge Leserschaft. Unsere Abonnenten sind im Schnitt unter 40, oft unter 30 Jahren. Und das Gros von ihnen hat ein Internet-Abo. Unser Onlineauftritt www.ilfattoquotidiano.it gehört mittlerweile zu den vier im Internet meistgeklickten Tageszeitungen. Täglich gehen im Schnitt 300.000 Besucher auf unsere Website. Das liegt nicht zuletzt daran, dass wir Dubletten-Angebote mit der gedruckten Zeitung so weit wie möglich vermeiden, auch wenn wir eine sehr kleine Web-Redaktion haben.

Ihr Erfolg ist also weniger eigenen Meriten geschuldet als dem Umstand, dass die anderen ihren Job nicht machen. Droht Ihnen das Aus, wenn Berlusconis Kontrolle verschwindet?

Stimmt. Uns gäbe es nicht, wenn die Medien die Fakten, die Nachrichten brächten, wie es in anderen Ländern Normalität ist. Wir füllen in Italien ein enormes Vakuum. Aber Achtung: Dieses Problem kann man nicht auf Berlusconi zusammenkürzen. Traditionell sind unsere Zeitungen durch die Parteien konditioniert, durch die Banken, durch Großunternehmen, und dies so stark wie nirgendwo sonst. Denn bei uns haben Unternehmer und Parteien direkten Zugriff auf die Medien. Die Unternehmer kontrollieren die Presse – den klassischen, „reinen“ Verleger gibt es praktisch nicht –, die Parteien kontrollieren das Fernsehen. Auch in den Jahren nach Berlusconi wird sich an diesem Zugriff wenig ändern. Medien, die nicht informieren, werden uns in großem Maßstab erhalten bleiben.

In den letzten Wochen hielt Wikileaks mit seinen Enthüllungen die Welt in Atem. Ein neues Modell, das die Krise der „traditionellen“ Medien weiter verschärfen wird – oder ging es da bloß um „Gossip“?

Wikileaks ist in ähnlicher Mission unterwegs wie wir. Aber aufgepasst: Wikileaks ersetzt den Journalismus nicht, es braucht ihn. Wikileaks stellt da hunderttausende Dokumente ins Netz, Berichte, Depeschen etc. – und im zweiten Schritt sind dann Journalisten gefragt, um das enorme Material kompetent aufzubereiten und einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Wikileaks ist das Archiv – und da müssen die Journalisten rein. Aber natürlich verteidigen wir Wikileaks. Da geht es eben absolut nicht bloß um Gossip. Klar, wir wussten, wer Berlusconi ist, das mussten wir da nicht erst nachlesen. Aber wir haben jetzt mit den veröffentlichten Dokumenten zum Beispiel schwarz auf weiß dargelegt bekommen, wie sehr die US-Diplomatie ihm misstraut, während hier immer erzählt wurde, das Verhältnis zu den USA sei ausgezeichnet.

Trotz Ihres sensationellen Erfolgs: Wie sehen Sie die kommende Entwicklung?

Il fatto quotidiano nutzt heute schon alle verfügbaren Kommunikationsinstrumente. Mag sein, dass die neuen Kanäle in Zukunft an Stelle des Papiers treten. Momentan allerdings passiert das noch nicht, auch weil in Italien das Internet noch unterdurchschnittlich verbreitet ist. Der Auflagenschwund der anderen Zeitungen in Italien hat meiner Meinung auch nicht so sehr mit ihrer Papierform zu tun – sondern damit, was sie drucken. Unsere Leser sind Leute, die teils seit Jahren keine Zeitungen mehr kauften oder noch nie Zeitungen kauften. Die stoßen sich keineswegs daran, dass wir auf Papier rauskommen.

Und Sie? Lesen Sie lieber Papier oder auf dem iPad?

Für mich ist Papier unersetzlich, das kann man knicken, da kann ich unterstreichen. Und wenn mich beim Lesen eine Fliege nervt, kann ich sie mit der Zeitung erschlagen. INTERVIEW: MICHAEL BRAUN

■ Der Interviewer, 53, ist seit 2000 Italien-Korrespondet der taz