Sie glauben das trotzdem

KIRCHENKAMPF In Heroldsbach soll die Jungfrau Maria erschienen sein – und nicht nur sie. Deshalb pilgern Katholiken dorthin. Die Kirche kämpfte lange dagegen an

 Frankreich: Es geschah am 11. Februar 1858 in der Grotte von Masabielle. Zum ersten Mal zeigte sich Bernadette Soubirous an diesem Tag eine schöne Frau in weißen Kleidern. Überlieferungen zufolge erschien diese Maria der 14 Jahre alten Tagelöhner-Tochter anschließend mehr als ein Dutzend Mal an diesem Ort. Lourdes wurde daraufhin zu einem der weltweit wichtigsten katholischen Wallfahrtsorte. Bernadette Soubirous wurde heiliggesprochen.

 Franken: Nicht weit von Nürnberg soll Maria zwischen 1949 und 1952 mehreren Kindern erschienen sein und sie zum Beten aufgefordert haben. Dieses Wunder allerdings erkannte die Kirche nicht an. Die Pilger kommen trotzdem weiter nach Heroldsbach. 2007 wollen Gläubige gar ein weiteres Wunder erkannt haben: eine weinende Madonnenstatue.

VON STEFANIE MÜLLER-FRANK

Für das, was sie hier tut, wäre Emmi Kestner bis vor kurzem noch aus der Kirche ausgeschlossen worden. Sie ist 57 Jahre alt, eine fromme Hausfrau aus Niederbayern. Vor Sonnenaufgang ist sie aufgebrochen. Im fränkischen Heroldsbach steigt sie jetzt aus einem der vielen Busse mit den Marienbildern hinter der Frontscheibe, die an diesem Morgen nach und nach auf den Parkplatz rollen. Kestner kommt seit 22 Jahren an diesen Wallfahrtsort, der keiner sein darf. Damals lag ihr Sohn im Koma. „Was bleibt einem da – außer zu beten?“, fragt sie, hebt kurz ihre getönte Sonnenbrille an und wischt sich unauffällig eine Träne aus dem Augenwinkel. Also ist sie nach Heroldsbach gepilgert, um hier die Muttergottes um Fürsprache zu bitten. Seitdem kommt Kestner regelmäßig her.

Direkt am Eingang zu diesem Wunderland allerdings hat die katholische Kirche einen Warnhinweis angebracht: Sämtliche Erscheinungen von Heroldsbach seien nicht anerkannt. Emmi Kestner hakt sich bei einer Bekannten unter, die eine bemalte Madonnenstatue trägt. Sie würdigen das Schild keines Blickes.

Die katholische Kirche hat das Wunder nie akzeptiert. Sie wurde gezwungen, es zu tolerieren.

Früh am Morgen, wenn im Pilgerheim von Heroldsbach die Thermoskannen mit Filterkaffee bereitstehen und die Stockbetten im Schlafsaal frisch bezogen sind, klettern die Pilger beladen mit Handtaschen, Plastiktüten und leeren Wasserkanistern aus den Bussen und strömen den Hügel hinauf zur Gebetsstätte. Ein älterer Herr in Hemd und Kordhose aber bleibt verloren vor dem Schild stehen und schlägt ein Kreuz vor der Brust. Seine Hände erzählen von einem Leben auf dem Acker, die Fingernägel sind braun und rissig. „Das ist unser Wunder“, ruft der Landwirt. Sein breites Schwäbisch ist kaum zu verstehen, so aufgebracht ist er.

Die Auseinandersetzung begann im Jahr 1949. Damals soll vier Mädchen auf einem Acker am Dorfrand die Jungfrau Maria erschienen sein. Und nicht nur sie. Auch das Jesukind, Heilige, Engel und sogar eine Vierfaltigkeit aus Vater, Sohn, Heiligem Geist plus Muttergottes. Spätestens da muss sich die Kirche einschalten.

Das Bistum Bamberg schickt eine Prüfungskommission aus Geistlichen, die die „Sehermädchen“, wie sie bald genannt werden, verhören und zu ihren Visionen begleiten. Wie all die anderen Gläubigen, die sich auf dem Hügel drängen, sehen sie – nichts. Dennoch wächst die Zahl der Pilger von Tag zu Tag. Die Bundesbahn setzt Sonderzüge ein. Aber das Wunder fällt durch. Noch im Jahr des ersten Wunders 1949 verbietet die katholische Kirche ihren Mitgliedern, auf dem Hügel zu beten, Geistliche dürfen keine Messen mehr dort abhalten. Die „Sehermädchen“ werden exkommuniziert.

Doch da ist der Acker längst zu einem inoffiziellen Wallfahrtsort geworden. Das Verbot bringt die Menschen nicht von ihrem Glauben an das Wunder ab. Im Gegenteil. Die Laien zimmern sich eine Gebetsstätte, ein Zuhause für ihre Frömmigkeit. Keine nüchterne Kirche aus Sichtbeton, sondern eine Laube Marke Eigenbau: Hier ein hölzerner Unterstand für die Muttergottes, in dem Tag und Nacht der Rosenkranz gebetet wird. Dort ein Blumenbeet rund um jene Stelle, an der Maria zum ersten Mal den Boden betreten haben soll.

Emmi Kestner kniet auf dem verwitterten Stein nieder, nimmt ihre Sonnenbrille ab und faltet die Hände vor der Brust. Ihr Sohn ist wieder aus dem Koma erwacht, nachdem sie damals für ihn gebetet hatte. „Aber man darf sich ja nicht nur an die Muttergottes wenden, wenn man in Not ist.“ Und so kommt sie jedes Jahr wieder, um ihr zu danken. So wie viele andere Pilger auch. Die Wände der Gnadenkapelle sind über und über bedeckt mit Tafeln, die für die Heilung von schweren Krankheiten danken. Die Bänke der Kapelle sind bis auf den letzten Platz besetzt, Rosenkränze rauschen durch die Finger, schwerer Lilienduft vermischt sich mit Weihrauch.

Während in der Kapelle gemeinsam gebetet und gesungen wird, sitzen in der Kirche nebenan die Pilger auf einer langen Holzbank vor dem Beichtstuhl. Pater Dietrich von Stockhausen nimmt an Festtagen wie heute bis zu zehn Stunden am Tag Pilgern die Beichte ab. Es ist eine Gratwanderung. Vor zwölf Jahren hat ihn seine Ordensgemeinschaft nach Heroldsbach geschickt, um die Leitung der Gebetsstätte zu übernehmen. Im Jahr 1998 wurde Heroldsbach vom Bistum Bamberg als marianische Gebetsstätte anerkannt – auch, um das Beten im Kornfeld wieder in kirchenkonforme Bahnen zu lenken. Ein Versuch, den eigenmächtigen Volksglauben zu umfrieden – ohne ihn wirklich anzuerkennen.

Die Kommission sagt: kein Wunder. Das Verbot bringt die Leute aber nicht von ihrem Glauben daran ab

Der Pater weicht nicht aus

Dietrich von Stockhausen versteht sich auf der einen Seite als treuer Diener der Kirche, andererseits will er für die Pilger da sein und ihren Fragen nicht ausweichen. „Ich selbst glaube an die Erscheinungen“, sagt er mit warmer, etwas müder Stimme. „Wenn vor 61 Jahren nichts stattgefunden hätte, wäre hier heute auch nichts.“ Aber das, betont er, sei seine persönliche Meinung.

Denn die katholische Kirche behält sich die Deutungshoheit darüber vor, welche Ereignisse sie als übernatürlich anerkennt – und welche nicht. Sie fungiert als Türsteher zu diesem Wunderland, auch wenn die Pilger glauben, dass der Himmel ein Wunder direkt zu ihnen geschickt hat. Und der Prüfkatalog ist streng. Erscheinungen und Wunder müssen nicht nur die Naturgesetze außer Kraft setzen, sondern auch theologisch stimmig sein, also der Bibel entsprechen.

Pater Dietrich von Stockhausen legt lieber sein eigenes Maß an: seine Menschenkenntnis. „Ich halte die Zeuginnen für glaubwürdig“, sagt er ohne jeden Eifer. Mehrmals hat der Pater in den vergangenen Jahren mit den „Sehermädchen“ von damals gesprochen, vier von ihnen leben auch heute noch in Heroldsbach. Nach all den Demütigungen durch die katholische Kirche, nachdem sie von ihren Nachbarn für verrückt erklärt und von den Medien als unzurechnungsfähig abgestempelt wurden, will sich keine von ihnen mehr öffentlich äußern. Der Pilgerverein dagegen geht an die Öffentlichkeit und kämpft weiter dafür, dass Heroldsbach offiziell vom Vatikan anerkannt wird. Aber dafür müsste wohl ein weiteres Wunder geschehen.

Zur Mittagszeit wird es eng im Pilgerheim. Die Menschen stehen mit ihrem Teller bis in den Gang. Allein der Altersdurchschnitt unterscheidet das Pilgerheim von einer Jugendherberge. Und die lebensgroße Marienstatue im Flur. Viele Besucher streicheln ihr ehrfürchtig über die gefalteten Hände oder die Wangen. Einige fallen sogar auf die Knie, mitten im überfüllten Flur. Denn vor drei Jahren soll die Statue geweint haben.

„Eine Manipulation“, sagt Dietrich von Stockhausen, der Pater. „Wenn uns der Himmel ein Zeichen geben will, dann eines, das wir verstehen können – und keines, das leicht zu manipulieren ist“, glaubt er. Pragmatisch tupfte der Geistliche damals die Tränen mit einem Taschentuch ab und übergab es dem Kirchenrechtler Alfred Hierold zur Untersuchung. Der emeritierte Theologieprofessor stellte fest, dass das Taschentuch fast den gleichen Natriumgehalt aufwies wie das Wasser aus den Waschräumen des Pilgerheims. „Wunder sind erst mal Privatsache“, sagt Hierold. „Die Kirche muss jedoch einschreiten, wenn sie befürchtet, dass Menschen einem Schwindel aufsitzen.“ Und es sei doch kaum ein Zufall, meint er, dass genau 1949 ein Film in den Kinos lief, der das Leben der heiligen Bernadette von Lourdes erzählte – also jener jungen Frau, der Maria erschienen ist. Vielleicht gibt es aber auch einfach Zeiten, die Wunder begünstigen. Zeiten der Krise, in denen übernatürliche Ereignisse den Menschen plausibler erscheinen als sonst. Wie im Jahr 1949, als man – gerade in Franken, unweit der damaligen innerdeutschen Grenze – große Angst davor hatte, russische Panzer könnten jederzeit ins Dorf rollen.

Gestärkt von der Beichte wartet Emmi Kestner zusammen mit knapp dreißig anderen Pilgern vor einem überdachten Unterstand auf eine Rosenkranzprozession. In dem Unterstand reihen sich unzählige Holzkreuze in den unterschiedlichsten Varianten aneinander – sorgsam nach Größe geordnet wie an einer Ausleihstation für Skier.

Als 1949 vier Mädchen von der Erscheinung berichten, entsendet der Bischof Gutachter nach Heroldsbach

Handtasche übers Kreuz

Tatsächlich suchen sich die Menschen auch hier ein Kreuz nach Gewicht und Körpergröße aus. Je nachdem, was sie schultern können. Oder an Buße leisten wollen. Emmi Kestner zögert kurz. Sie weiß nicht, wohin mit ihrer Handtasche. Also hängt sie die Tasche kurzerhand übers Kreuz.

Am Brunnen der Gebetsstätte steht der Landwirt mit einer Schubkarre und füllt Gnadenwasser ab. Vier Kanister und drei Flaschen hievt er vom Brunnenrand in die Schubkarre. Ein Kanister ist für ihn selbst, die anderen sind für Mitreisende aus seiner Pilgergruppe. „Die jungen Menschen sollten wenigstens einen Garten haben“, murmelt er resigniert. „Dann würden sie zumindest ab und zu mal zum Himmel hochschauen.“ Als er an der Muttergottes vorbeikommt, stellt der Landwirt die Schubkarre mit den Kanistern und Flaschen ab, geht wackelig in die Knie und bekreuzigt sich.

Dann schiebt er das Gnadenwasser durch die Pforte zum Reisebus. Wunder in alltagstauglichen Rationen, für zuhause.