„Papa, ich hab Sex“

JUGEND Es ist schwer, seine Sexualität zu entdecken und erwachsen zu werden. Was für die einen zu viel Freiheit ist, ist für andere zu wenig. Jugendliche aus Migrantenfamilien in Berlin diskutieren das aus

VON ALKE WIERTH
(INTERVIEWS) UND WOLFGANG BORRS (FOTOS)

Liebe, Sex, Beziehungen – für die meisten Jugendlichen keine Tabuthemen, sondern normaler Teil ihres Alltags. Für die jungen Berliner und Berlinerinnen, die hier zu Wort kommen, ist das nicht ganz so einfach. Sie sind zwar hier geboren, aber bis auf einen Jungen pakistanischer Herkunft aus türkischstämmigen Familien. Auf ihrer Schule, einem Gymnasium, das zwischen den Berliner Bezirken Kreuzberg oder Neukölln liegt, sind achtzig Prozent der Schüler und Schülerinnen Nachkommen von Einwanderern. Nach einem Streit haben die Teenager in ihrem Wahlfach „Darstellendes Spiel“ das Theaterstück „Özgürlük (Freiheit) oder: Is there no sex in Kreuzberg?“ entwickelt. Darin geht es um Liebe, Sex, Beziehungen in ihrem Leben. Mit dem Stück haben die Jugendlichen den Berliner Mete-Eksi-Preis für Gleichberechtigung und Toleranz gewonnen.

Auszug aus dem Stück:

(Zwei Mädchen schminken sich auf der Schultoilette)

Mädchen 1: Sag mal, du hast doch einen Freund, oder?

Mädchen 2: Ja, hab ich.

Mädchen 1: Also, ihr schlaft schon miteinander?

Mädchen 2: Na logo, sind doch alt genug.

Mädchen 1: Wie ist das denn so?

Mädchen 2: „Na ja, Sex – manchmal braucht man ihn, manchmal nicht, mal ist er aufregend, mal sehr langweilig, mal dauert er lange, mal viel zu kurz.

Ich probiere gern mal so Sachen aus. Ist was zum Genießen.

Ich liebe es, seinen schwitzenden Körper an meinem zu spüren.

Wenn einem überall warm wird und es im ganzen Körper so wunderschön kribbelt.

Klar, Sex hat etwas mit Intimität zu tun, mit Leidenschaft, aber vor allem mit Liebe.

(Die Tür fliegt auf, eine dritte Frau stürzt ins WC.)

Mädchen 3 (zu Mädchen 1): Was machst du hier mit dieser Schlampe?

taz: Warum habt ihr das Theaterstück gemacht?

Aras*: Es gab an unserer Schule Streit wegen eines Mädchens, das mit seinem Freund geschlafen hatte. Was ja vollkommen ihre Privatsache ist. Aber ein anderes Mädchen hat angefangen, sie öffentlich zu verspotten und zu beleidigen. Das hat uns zum Nachdenken gebracht: Wieso mischt sich jemand in das intime Privatleben einer anderen ein?

Kemal: Wir haben dann aufgeschrieben, wie wir selbst mit Sexualität, mit Beziehungen umgehen, welche Haltungen wir da haben, welche Erfahrungen, welche Ängste, welche Gefühle. Das wurde dann vorgelesen, aber anonym, sodass man nicht wusste, was von wem kommt.

Muharrem: Daraus haben wir die verschiedenen Szenen des Stücks entwickelt. Wie Jungs untereinander mit angeblichen Erfahrungen angeben und wie sie wirklich ticken. So sind dann kleine Bausteine entstanden, wie ein Puzzle hat sich das immer weiter aufgebaut.

Fatma, du bist im Stück „Mädchen 2“ und hast darüber gesprochen, wie es ist, Sex zu haben. War das schwer für dich?

Fatma: Überhaupt nicht. Ich habe das Meiste davon auch selber geschrieben. Für mich war das kein Problem, weil ich mit Sex sehr frei umgehe. Ich rede darüber. Übers Aufgeregtsein. Über Lust. Über Verhütung und so.

Gilt das für euch alle?

Aynur: Nein.

Merve: Aber die Arbeit an dem Stück hat dazu geführt, dass wir heute freier darüber reden können. Wir wollten gucken, wie das an der Schule so ankommt. In dem Stück geht es ja um Probleme, die die meisten hier haben. Dass unsere Eltern sehr viel von uns erwarten. Zum Beispiel gute Leistungen in der Schule. Nebenbei sollen wir – das betrifft vor allem die Mädchen – auch noch die Erwartungen der Eltern erfüllen: Als brave Mädchen zu Hause bleiben, auf die kleinen Geschwister aufpassen und so.

Kemal: Es geht in dem Stück auch um Gruppenzwang. Wenn Freunde Druck machen, weil sie nicht akzeptieren, wenn man mal anders denkt als sie.

Muharrem: Und darüber, wie wir auf die Meinungen reagieren, die die Eltern haben. Religiöse Ansichten zum Beispiel. Viele junge Leute wie ich wollen da ihr eigenes Weltbild entwickeln, ein freieres, eins, das Religion Privatsache sein lässt. Aber wir werden daran gehindert, durch die Eltern, die älteren Geschwister. Das ist ein wahnsinniger Druck, da haben viele Angst, sich durchzusetzen.

Aras: Das hat mit unserer Herkunftskultur zu tun. Ich zum Beispiel kann alles machen, was ich will, lange draußen bleiben, bei Freunden schlafen. Ich bin ein Junge. Trotzdem könnte ich nie sagen: Papa, lass uns mal ein Bier trinken gehen, oder: Papa, ich hab Sex. Das hat mit Respekt zu tun. Meine Eltern lassen mir meine Freiheiten, unter der Bedingung, dass sie nicht mitbekommen, was ich tue. Offiziell heißt es eben immer: Kein Sex vor der Ehe, und vordergründig halten sich alle daran. Deshalb heißt unser Stück ja: „Is there no sex in Kreuzberg?“

Es scheint eine Menge mehr davon zu geben, als man denkt, oder?

Alle: Ja!

Was meint ihr, wie viele der türkischstämmigen Mädchen hier als Jungfrauen in die Ehe gehen?

Aynur: Höchstens fünf Prozent.

Huch, warum guckt ihr Jungen jetzt so verblüfft?

Aras: Man kann es einfach nicht sagen. Trend ist ja, sich medizinisch wieder als Jungfrau herstellen zu lassen, bevor man heiratet.

Leyla: Aus Angst, dass der zukünftige Ehemann einen sonst nicht annehmen wird!

Würdet ihr denn eine Frau heiraten, die nicht mehr Jungfrau ist?

Hakan: Wenn sie mir das vorher erzählt, warum nicht. Wenn ich sie liebe, würde ich das vergessen. Ich würde sicher erst mal streng reagieren, denn ich gehe davon aus, dass ich selber vor der Ehe keinen Sex haben werde. Aber eigentlich ist das ja nicht so schlimm. Ist nicht die Welt.

Aras: Wenn es Liebe ist, dann ist es Liebe. Da lasse ich mich nicht von einem Stückchen Haut oder von meiner Familie aufhalten.

Merve: Aber viele Jungen sind keine Jungfrauen mehr und möchten trotzdem, dass die Frauen, die sie mal heiraten, welche sind!

Kemal: Das Problem ist: Die wollen zwar Jungfrauen heiraten, sorgen aber dafür, dass viele Mädchen keine bleiben. Sie ziehen Liebesshows ab, aber wenn die Mädchen dann mit ihnen geschlafen haben, schicken sie sie weg und sagen: Du bist voll die Schlampe.

Was ist denn eine Schlampe?

Die Mädchen: Ein Mädchen, das einen Freund hat, das kurze Sachen trägt. Wer viel flirtet, ist eine Schlampe. Wer keine Jungfrau mehr ist, sowieso. Wer viel Kontakt mit Jungen hat. Wer spät nach Hause kommt, feiern geht. Wer im Bikini schwimmen geht, sich zu viel schminkt. Jeder denkt sich was dazu aus. Da kann man viel aufzählen.

Auszug aus dem Stück:

Mädchen (erzählt seinen Freundinnen, warum es nicht mit ihnen ausgehen darf): „Mein Vater: ‚Du läufst rum wie ein Flittchen.‘ – Ich: ‚Stimmt doch gar nicht, das zieht man jetzt so an.‘ – Einsatz meiner Mutter: ,Wie kannst du es wagen, Allah so unter die Augen zu treten?‘ – Ich: ‚Wenn es ihn gibt, hat er mich schon nackt gesehen.‘ – Meine Mutter fällt bald in Ohnmacht: ‚Was heißt hier, wenn es ihn gibt?‘ – Ich: ‚Das heißt, dass ich nicht daran glaube, dass es ihn gibt!‘ – Mein Vater: ‚Du bleibst heute Abend zu Hause!‘“

Haben eure Eltern das Stück eigentlich gesehen?

Einige: Meine waren da.

Aynur: Meine nicht! Wenn meine Mutter alles über mein Sexleben wüsste, würde sie mir viel verbieten.

Was denn?

Aynur: Dass ich überhaupt Sex habe! Ich meine, sie vermutet das sicher. Sie weiß ja, dass ich die Pille nehme! Aber trotzdem will sie nicht aus meinem Mund hören, dass ich Sex habe. Ist ja auch peinlich, über Sex zu sprechen mit den Eltern.

Kemal: Ich habe so viele Freiheiten, wie ich mir nehme. Als ich jünger war, konnte ich mich meinen Eltern gegenüber schlechter durchsetzen, da musste ich oft nachgeben und einstecken. Aber mittlerweile denke ich, okay, die wollen zwar sicher das Beste für mich, aber ich habe meine eigenen Ansichten und die will ich auch durchsetzen, ob es denen gefällt oder nicht. Ich habe mir auf die Art zu Hause schon viele Freiheiten erkämpft.

Wissen eure Eltern immer, was ihr macht?

Aynur: Nein. Da ist schon einiges, was ich denen lieber ersparen will. Die kennen das einfach nicht, wie ich lebe. Und ich will auch das Bild, das sie von mir haben – unser gutes Mädchen – nicht verderben. Wenn ich sagen müsste, wie viel meine Mutter von mir kennt, dann würde ich sagen, dreißig, vierzig Prozent. Sie weiß oft nicht, wo ich bin und mit wem.

Beneidest du Mädchen, bei denen das anders ist?

Aynur: Ja. Ich würde da gerne mehr ich selbst sein, ihr mehr von mir zeigen können.

Und wenn ihr euren Eltern einfach alles erzählen würdet?

Elif: Das wollen die nicht. Das ist bei uns so. Das hat etwas damit zu tun, wie weit sich Eltern hier auch integriert haben. Auch wenn wir in Europa, in Deutschland, in Berlin sind, wollen sie trotzdem diese traditionellen Sachen beibehalten: Mädchen dürfen keinen Freund haben, kein Sex vor der Ehe, keinen Alkohol.

Dann kennst du die Situation, die auch im Stück vorkommt: dass man mit einem Freund im Café sitzt und aufpassen muss, dass einen nicht der Falsche sieht?

Elif: Ja. Und das ist wirklich scheiße.

Gibt es für euch Jungen eigentlich auch solche Grenzen?

Aras: Es gab eine Zeit, da durfte ich nicht raus, weil ich ein paar Grenzen überschritten hatte, mit vierzehn, fünfzehn Jahren erst nach Mitternacht nach Hause gekommen war. Und Mädchen mit nach Hause bringen, das geht auch nicht, höchstens vielleicht mal eine Klassenkameradin zum Lernen oder so. Aber auch nur ab und zu mal, auf keinen Fall zwei, drei Tage hintereinander.

Und dann musst du die Tür auflassen?

Aras: Nein, also da gehen meine Eltern mal ganz sicher von aus, dass da nichts läuft, wenn sie in der Nähe sind. Das hat ja auch was mit Respekt zu tun.

Euer Respekt vor den Eltern?

Aras: Ja.

Und den habt ihr auch?

Aras: Klar! Bei uns ist es so: Wenn ein Kind auf die schiefe Bahn gerät, egal ob Junge oder Mädchen, dann sagen die Verwandten: Was ist das für ein Vater, warum kriegt er seine Kinder nicht hin? Was für ein Nichtsnutz! Da wird Druck ausgeübt.

Eure Eltern sind doch teils auch schon hier aufgewachsen und haben selbst unter diesem Druck gelitten?

Fatma: Man merkt da schon Unterschiede. Eltern, die hier in Berlin aufgewachsen sind, sind in Sachen Ausgehen und so viel freier. Aber beim Thema Sex sind sie genau wie die anderen. Da herrscht dieser Drang, die Kultur zu behalten. Dabei sieht man das ja selbst in der Türkei nicht mehr so streng wie hier! Aber da haben die Leute eben auch keine Angst, ihre Kultur zu verlieren, wenn sie etwas ändern. Die Leute hier, die haben diese Angst, ihre Wurzeln zu verlieren.

Leyla: Bei mir in der Familie hat man das Gefühl, dass die Verwandten wirklich darauf warten, dass mal jemand was falsch macht. Damit sie dann sagen können: Meine Tochter ist besser als deine! Ich wurde deshalb sehr streng erzogen, ich darf höchstens zweimal im Monat raus. Glücklicherweise steht mein Bruder hinter mir, das ist eigentlich nicht normal, dass mein älterer Bruder so für mich kämpft. Er sagt zum Beispiel: Nee, sie darf jetzt raus, sie macht jetzt dies oder das. Da habe ich echt Glück.

Hakan: Ihr sagt, dass ihr Angst davor habt, dass eure Eltern erfahren, was ihr so macht. Aber ich glaube, wenn sie das wüssten, würden sie vielleicht anfangs streng reagieren, vielleicht auch strafen. Aber irgendwann würden sie das dann auch akzeptieren.

Die Mädchen: Quatsch!

Kemal: Dann kommst du zum Onkel in die Türkei, damit du einen klaren Kopf kriegst?

Hakan: Mann, übertreib mal nicht!

Aras: Du weißt, dass ich aus einer freien Familie komme. Aber wenn ich meiner Mutter sagen würde: Mama, ich gehe heute Abend aus und trinke Alkohol und treffe Mädchen, was meinst du, was passieren würde?

Hakan: Na ja, wenn du das so erzählst, provozierst du ja auch Ärger.

Die anderen: Aber darum geht es doch: dass man ehrlich sein kann.

Aynur: Eine Bekannte von mir, die genau wie ich denkt, frei sein und trotzdem ihre Kultur beibehalten will, hatte einen Freund. Und sie wollte einfach kein Versteckspiel leben. Sie hat ihren Mut zusammengenommen und ihren Eltern und ihren Brüdern alles erzählt. Weißt du, wo sie jetzt ist? Sie wurde verstoßen, eiskalt. Sie muss auf eigenen Beinen stehen, darf ihre Familie nicht mehr sehen, sie hat keinen mehr. Verstehst du?

Hakan: Es kommt darauf an, wo die Familie herkommt, wie sie im Heimatland gelebt hat, auf die Einstellungen, auf die Religion. Und es kommt auf die persönlichen Einstellungen und die persönlichen Erfahrungen an. Du zum Beispiel, du bist frei, du schläfst mit Mädchen vor der Hochzeit. Würdest du deiner Tochter das später denn erlauben?

Aras: Natürlich nicht! Aber ich würde sie auch nicht verstoßen! Ich würde meine Tochter doch lieben!

Aynur: Es geht nicht um Liebe. Das wissen wir doch alle, dass unsere Eltern uns lieben. Es geht um die Schande, die man über die Familie bringt. Vor allem als Mädchen. Du willst deine Eltern nicht enttäuschen, damit sie stolz auf dich sind, willst das liebe Mädchen sein, das sie sich wünschen. Aber gleichzeitig lebst du in Berlin und siehst, wie es da läuft. Zwischen der Welt in der Familie und der Welt außerhalb kämpfen wir halt um unseren eigenen Weg.

Würdest du deiner Tochter erlauben, so zu leben, wie du lebst?

Aynur: Ja. Mit ein paar Einschränkungen.

Die anderen: Kein Sex!

Aynur: Das weiß ich nicht. Ich weiß es einfach nicht. Ich würde in der Erziehung vieles anders machen als meine Eltern. Ich würde aufpassen, dass ich alles über meine Tochter weiß, sie mir alles anvertrauen kann. Ich würde natürlich auch vieles beibehalten wollen von unserer Kultur, von unserer Religion. Aber ich würde sie freilassen.

Also freilassen und begrenzen gleichzeitig?

Fatma: Ich finde, dass hier die ganze Zeit verallgemeinert wird, als gebe es nur Extreme und nichts dazwischen. Die meisten denken nicht so schwarzweiß. Ich kann mit meinen Eltern über vieles diskutieren.

Merve: Ich bin zufrieden mit den Regeln, die meine Eltern für mich aufstellen und halte sie auch gerne ein. Ich habe es nicht anders gemacht, als ich mal zwei Wochen mit meinen Geschwistern allein war. Das habe ich nicht ausgenutzt. Nicht weil ich Angst vor Strafe habe! Aber davor, wie sie sich fühlen, wenn ich ihre Regeln breche. Ich fühle mich wohler, wenn ich die Regeln einhalte. Tue ich es nicht, bin ich dafür verantwortlich, wenn sie traurig sind.

Und wie denkst du über Mädchen, die das anders sehen?

Merve: Wie soll ich über die denken?

Die anderen (im Chor): Schlampe!

Merve: Nein. Ich verurteile das nicht, das kann jeder so machen, wie er will. Wer eine andere Meinung hat, ist doch kein schlechterer Mensch. Das muss man respektieren.

*Alle Namen sind geändert

Alke Wierth ist Redakteurin im Berlin-Ressort der taz