Morgens lichtblau, abends taubengrau

BAUWERK Über diese Brücke können Dresdner viel erzählen: Wie sie den Krieg überlebt hat. Wie sie den Pfennigabsatz verschluckt hat. Ein Tag am Blauen Wunder

„Die alte Leiche“, sagt ein Dresdner. Ob er das Blaue Wunder nicht schön finde? „Schön?“, fragt er. „Ein Koloss“

VON SUSANNE MESSMER

Die Dresdner, heißt es, lieben ihr Blaues Wunder. Die Dresdner, sagt man, erzählen auch jedem, der fragt gern, warum.

In der Morgendämmerung, wenn der Himmel ultramarin leuchtet, wenn die Gemüsehändler ihre Marktstände vor dem Blauen Wunder aufbauen, der Fischhändler sein Fenster vom Fischauto aufklappt, die erste Tram an der Haltestelle quietscht und die Brücke zwischen Lichtblau und Lindgrün hinter der noch schläfrigen Geschäftigkeit schimmert, dann hat dieses wuchtige Bauwerk seinen großen Auftritt. Wenn sich der Sonnenstrahl durch das Eisenfachwerk legt, ist diese schwere Brücke, stabil wie eine Dampfeisenbahn, eine imposante Klammer, die sich zwischen Loschwitz und Blasewitz, fünf Kilometer vom Stadtzentrum, über die Elbe spannt. In ihrer altmodischen Monumentalität wirkt sie verlässlich und charmant, fast rührend.

Es ist einfach, Menschen anzusprechen, wenn sie früh und bei großer Hitze in einer Schlange stehen, darauf warten, Tomaten zu kaufen. Wie die Dame mit dem sorgfältig gekämmten Haar. Ihr ganzes Leben habe sie am Blauen Wunder verbracht, erzählt sie in weichem, melodischem Singsang. Als sie Konfirmandin war, in den fünfziger Jahren, seien die Pfennigabsätze in Mode gekommen. Sie musste über die Brücke, zur Schule, blieb zwischen den Planken des Blauen Wunders stecken, der Absatz brach ab. Wenn sie mal woanders ist, sagt sie, hat sie oft Heimweh. Für sie hat Heimweh die Farbe Blau.

Eine andere Dresdnerin mischt sich ein. Das Blaue Wunder sei nicht ohne die Waldschlösschenbrücke zu haben – wegen der die Unesco dem Elbtal den Weltkulturerbestatus aberkannt hat. Wieder stellen sich zwei Dresdner dazu, sind sich einig, das blaue Wunder sei total verstopft. Man kommt da ja kaum mehr rüber, meinen sie, die Entlastung durch die neue Brücke sei also mehr als willkommen.

Ein älterer, schwerer Herr im Karohemd studiert seinen Einkaufszettel. „Muss sehen, was gewünscht wird“, murmelt er auf die Frage, was es heute zu Mittag gibt. Ende der Fünfziger sei er nach Dresden gekommen. Weg von hier will er nicht mehr, denn er habe ja alles miterlebt, wie die Stadt zerbombt und wie alles wieder schön wurde, besonders nach der Wende. Er will bleiben, auch wenn er die große Kränkung seines Lebens hier erlebt hat. Dass er Physiker war am Zentralinstitut für Kernforschung in Rossendorf. Dass dann alles einfach so abgewickelt wurde, wo man doch auf dem neuesten Stand gewesen sei. Auch nach Fukushima hält Herr Weber die Kernkraft für die sauberste Energie. „So etwas wie in Japan kann bei uns nicht passieren“, sagt er.

Mit Blick Richtung Stadt erinnert eine Gedenktafel am Blauen Wunder an die „Dresdner Bürger“ Erich Stöckel und Paul Zickler, die die Brücke kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs vor der Sprengung durch die Wehrmacht retteten. Sie durchtrennten das Kabel zu den Sprengsätzen. Dresden war schon seit drei Monaten zerstört, „was hätte der Feind dort noch kaputtmachen können?“ Die Dame lässt sich ihren Korb gern über das Wunder tragen, „mit dem größten Vergnügen“. Sie erzählt von der Dresdener Bombennacht vom 13. auf den 14. Februar 1945, in der es 25.000 Todesopfer gab. Damals war sie acht. Lebte mit ihren Eltern in einem kleinen Dorf zehn Kilometer elbabwärts, erinnert sich trotzdem genau. „An die schrecklichen Schläge. An das unheimliche Licht.“ Sie bleibt stehen. „Am schlimmsten war es, als am nächsten Tag die Asche mit dem Wind ins Dorf geweht kam.“ Dann natürlich die Menschen. Ihre Eltern quartierten so viele ein, wie sie konnten.

„Wissen Sie“, beginnt sie in der Mitte der Brücke: „Dresden ist wirklich das Schönste, was es gibt. Schauen Sie doch“, sagt sie mit ausladender Handbewegung, „allein diese Elbe. Wo gibt es denn so etwas noch einmal in Deutschland?“ Und die Auen, die Weinberge am anderen Elbufer, die Schlösschen. Und – direkt überm Blauen Wunder – der Weiße Hirsch, das noble Viertel mit den feinen Villen. Dresden, Elbflorenz, schönste Stadt!

Wieder zurück auf der anderen Seite, bei der Gedenktafel. Ein Mann, alt, hager, klein, in Bundfaltenhose und zerschlissenem Fischerhemd, steigt langsam die Stufen zur Brücke hinauf. Er trägt ein Päckchen mit Kuchen auf dem Unterarm. Die wolle er einem Freund auf der anderen Seite bringen, sagt er. Ich könne mitkommen. Redselig indes ist er nicht. Als er auf halbem Weg zwei Bauarbeiter sieht, die etwas an der Brücke reparieren, sagt er ins Schweigen hinein: „Da schminken sie wieder die alte Leiche.“ Ob er das Blaue Wunder nicht schön finde? „Schön?“, fragt er zurück. „Es ist ein Koloss. Es war schon zu klobig, als es gebaut wurde.“

Eingeweiht wurde sie im Juli 1893, Dresdens fünfte feste Elbquerung. „Gebaut zum Himmel eine Wolkenbahn“, sang ein Männerchor, „zu Stein und Erz erstarren die Gedanken.“ Versteifte Hängebrücke nannte sie ihr Schöpfer, der Geheime Finanz- und Baurat Claus Koepcke.

Aber das Blaue Wunder tut nur so wie eine Hängebrücke. Eigentlich ist es eine Auslegerbrücke. Mit Auslegern auf beiden Seiten des Ufers, die ein Stück über den Fluss ragen, und einem dritten Trägerbalken in der Mitte. Die Verkehrsbrücke, über die sich heute zu viele Autos quälen, sollte sie eigentlich nie sein.

Hans Richter heißt der Mann übrigens, der mit der Bundfaltenhose und dem Kuchen. Bei einem Kaffee im Café Arabusta, am anderen Ende des Blauen Wunders, taut er auf. Sein Thema: Architektur. 1955 kam er aus Zossen, um in Dresden Bauingenieurwesen zu studieren. Alles habe ihn sofort „verhext“. Die Stadt, ihre Bewohner, ihre Umgebung, das Elbsandsteingebirge. Trotz der Bürgersteige, die noch immer so voller Trümmer waren, dass man nur über Holzbohlen zu den Haustüren kam. „Damals war die Bombardierung allgegenwärtig.“

Hans Richter wohnte in einem von den drei Häusern, die noch in seiner Straße standen. „Wissen Sie, warum? Die Bewohner sind nicht in den Keller gegangen, sondern nach oben. Sie haben die Brandbomben vom Dach geschmissen.“

In der Morgendämmerung, wenn der Himmel ultramarin leuchtet, hat die Brücke ihren Auftritt

Er sei was geworden in der DDR, erzählt Hans Richter, durfte wichtige Fabriken bauen, sei viel rumgekommen im Osten, habe sich aber nicht angepasst. Nie sei er in die Partei eingetreten, nie in eine andere politische Organisation. Einmal sei er als Student auf einer Baustelle herumgelaufen und habe sich so umgesehen. „Ich glaube, da sollte ein Betonwerk entstehen. Ich biege also um die Ecke, und wer steht plötzlich vor mir? Walter Ulbricht.“ Der sollte wohl die Baustelle begehen oder was, meint Richter. „Ich hatte damals immer eine Baskenmütze auf. Jeder konnte hundert Meter gegen den Wind sehen, was ich von der DDR hielt. Ulbricht hat mich trotzdem gegrüßt.“

Es ist Abend geworden. Zurück am Elbufer in Blasewitz werfen Kinder Steine in den Fluss, füttern Schwäne, gehen so tief ins Wasser, dass die Väter schließlich nachgeben und ihnen beim Kleiderausziehen helfen. Einer der Väter heißt Jens, hat Rastas, ist Erzieher, kommt aus Schwaben und wohnte zuletzt in Berlin. „Sachsen ist super“, sagt er. Er hat mit seiner Familie einen Bauernhof in einem Dorf gefunden, den er jetzt herrichtet. Das Dorf ist klein, aber es gibt Läden, eine Kneipe, eine Post und einen Kindergarten. „Solche Dörfer findest du in Brandenburg kaum mehr“, sagt er.

Hundert Meter weiter der Schillergarten. Mit sächsischem Sauerbraten, Grauburgunder aus Meißen und Eierschecke zum Nachtisch. Das große Ausflugslokal ist nach Friedrich Schiller benannt, der sich hier in eine Kellnerin – das Vorbild seiner Gustel von Blasewitz – verliebt haben soll. Irgendwann zwischen 1785 und 1787, als er dort oft Gast war.

Im Schillergarten machen sich die Gäste auch unter der Woche schick. Eine Blonde, Arm in Arm mit ihrer Mutter, sucht nach einem Platz. Sie tragen die gleichen weißen Strickjacken mit viel Glitzer. Es wäre nett, wenn man hier bei einem Bier ins Plaudern käme, die blaue Stunde erleben könnte. Aber da kommt ein Sturm auf, die Speisekarten fliegen weg. Alles löst sich auf.

Von der Standseilbahn auf der anderen Seite bietet sich noch ein letzter Blick aufs Blaue Wunder. Als die ersten Tropfen fallen, hat sich die Farbe der Brücke verändert. Das Lichtblau – so luftig, so leicht – sieht nun dunkler aus. Taubengrau.