„Täglich kann Material verschwinden“

Klaus Bartl, Landtagsabgeordneter der Linken, fordert Untersuchungsausschuss zu mafiösen Netzwerken in Sachsen

KLAUS BARTL, 57, ist verfassungs- und rechtspolitischer Sprecher der Fraktion Die Linke.PDS im Sächsischen Landtag. Während der DDR war er Mitglied der SED-Bezirksleitung in Karl-Marx-Stadt, von 1990 bis 1994 Fraktionsvorsitzender der PDS. Neben seiner Parlamentstätigkeit arbeitet er als Anwalt.

taz: Herr Bartl, Sachsen ist seit zwei Wochen in Aufruhr wegen brisanter Verfassungsschutzakten über mafiöse Netzwerke. Ministerpräsident Milbradt will dem Geheimdienst die Beobachtung der organisierten Kriminalität (OK) wieder erlauben, die ihre Fraktion ihm per Verfassungsklage untersagt hat.

Klaus Bartl: Das würde die Strafverfolgung eher wieder erschweren. Den besten Beweis dafür liefert die Tatsache, dass die brisanten Akten beim Verfassungsschutz unter Verschluss blieben. Nach ihrem Bekanntwerden dauerte es sieben Monate, bis sie der Staatsanwaltschaft überstellt werden konnten. Es bleibt dem Verfassungsschutz unbenommen, auch organisierte Kriminalität zu beobachten, wenn sie im Zusammenhang mit Gefährdungen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung steht. Originär aber muss Kriminalitätsbekämpfung Sache der Polizei und der Strafverfolgungsbehörden bleiben. Insofern sind Milbradts Forderungen Spiegelfechterei.

Hat der Verfassungsschutz mit dem Zurückhalten der Akten also indirekt zur Strafvereitelung beigetragen?

Die Paragrafen 12 und 12 a im Sächsischen Verfassungsschutzgesetz verlangen, dass der Geheimdienst bei Erkenntnissen über schwere, sogenannte Katalogstraftaten die Staatsanwaltschaft informieren muss. Die geheimdienstlichen Quellen darf er dabei weiterhin schützen. Die jetzt geführte Debatte, ob das Landesamt selbst über eine Aufdeckung der kriminellen Machenschaften entscheiden durfte, führt in die Irre. Niemand sonst als die Staatsanwaltschaft hat zu entscheiden, ob Verdächtigungen für eine Anklageerhebung ausreichen und die Beweise rechtsstaatlich erhoben wurden.

Immer vorausgesetzt, es befinden sich unter den 100 ominösen Verfassungsschutzordnern auch ganz „normale“ polizeiliche Ermittlungsakten?

Ich habe mich selbst seit Monaten umgehört und umgesehen. Aus den zugänglichen Prozessakten von damals kann man sich leicht zusammenreimen, wie Strafen ausgehandelt oder Verfahren niedergeschlagen wurden und wer in die Weiße-Kragen-Kriminalität verwickelt war. Im Raum steht die Vermutung, dass das Landeskriminalamt 2002 während einer Razzia in Leipzig bei den eigenen OK-Ermittlern Dutzende Ordner konfisziert haben soll. Deren Verbleib würde ich gern in einem Untersuchungsausschuss klären. Die Polizei hatte zumeist erkannt, dass hier die Staatsanwaltschaft gefragt ist, aber der Staatsanwalt wurde von einer höheren Etage blockiert.

Hat Ihrer Meinung nach auch Sachsens Generalstaatsanwalt Pflichten verletzt?

Die Staatsanwaltschaft ist gesetzlich zu Ermittlungen verpflichtet, sobald ein Anfangsverdacht besteht. Spätestens seit vergangenem Oktober konnte jedermann Hinweise auf korrupte Netzwerke und die VS-Akten in der Presse lesen. Der Generalstaatsanwalt hätte also zumindest einen Antrag auf Auskunft und Aktenvorlage an den Verfassungsschutz stellen müssen.

Heute debattiert der Sächsische Landtag in einer Sondersitzung über die Korruptionsaffäre im Freistaat. Es geht um einen mutmaßlichen Filz aus organisierter Kriminalität, Prostitution, Politikern und Justizbehörden mit Schwerpunkt in Leipzig. Das Landesamt für Verfassungsschutz hat darüber seit Jahren geheime Akten angelegt, obwohl es die organisierte Kriminalität eigentlich nicht beobachten darf. Erst durch Presseberichte und Kritik des sächsischen Datenschutzbeauftragten wurde die Öffentlichkeit im Herbst aufmerksam. Pfingsten wurden erste Aktenberichte der Staatsanwaltschaft übergeben. MIBA

Folgt daraus, dass solche Netzwerke auf Bundesebene bekämpft werden, weil der regionale Filz zu dicht hält?

Ich bin unter Polizisten, Anwaltskollegen und anderen Juristen auf eine große Mitteilungsbereitschaft gestoßen, allerdings unter dem Vorbehalt, dass Aussagen nicht wieder versickern oder gar zu Rechtsnachteilen führen. Solange der Justizminister nicht sofort Verdächtige im Justizapparat auch in ihrem eigenen Interesse suspendiert, kann täglich weiteres Material verschwinden. Wenn es gelungen ist, über zehn Jahre großflächig die Staatsgewalten und die Dienstaufsicht zu paralysieren, dann ist das für mich eine Bundesangelegenheit. Dann können wir wohl kaum auf sächsische Selbstheilungskräfte vertrauen.

INTERVIEW: MICHAEL BARTSCH