Familie und Verkehr

ASPHALTBÜRGER Das beachtliche Spielfilmdebüt „Home“ der Schweizer Regisseurin Ursula Meier

Meiers Film entzieht sich der eindeutigen Genrezuordnung, er changiert zwischen Komödie und Tragödie

Der Schweizer Spielfilm hat sich in den letzten Jahren nicht eben durch Werke von internationaler Ausstrahlung hervorgetan. In der Gunst der Filmförderung, zumal der Deutschschweiz, steht nach wie vor das Genre der Komödie, mit der man das einheimische Publikum in die Kinos zu locken versucht. Der Autorenfilm, der sich mit den gesellschaftlichen Realitäten der Gegenwart auseinandersetzt, kommt – wenn überhaupt – aus der Romandie. Unter dem Label „Dögmeli“-Filme sind in dem kulturell an Frankreich orientierten Landesteil einige ernst zu nehmende jüngere Filmschaffende an die Öffentlichkeit getreten, die mit kraftvollen Beziehungsdramen der Filmtradition eines Alain Tanner oder Claude Goretta alle Ehre machen. Zu ihnen zählen Vincent Pluss („Du Bruit dans la Tête“), Lionel Baier („Un autre homme“) und Ursula Meier, die mit dem in Cannes präsentierten „Home“ einen beachtlichen Spielfilmerstling vorlegt.

In einem surreal anmutenden Dekor erzählt die Regisseurin eine Familiengeschichte, der das Schrille nicht fremd ist. An einem nicht in Betrieb genommenen Autobahnabschnitt in der Pampa, umgeben von wogenden Kornfeldern, hat sich eine fünfköpfige Familie ein Haus zu eigen gemacht. Während die ersten Einstellungen des Films, gedreht mit dynamischer Handkamera, das Idyll beim gemeinsamen Landhockeyspiel auf dem Asphalt beschwören, lassen die folgenden Szenen, von Agnès Godard in statischen Halbtotalen eingefangen, bereits die Brüchigkeit der Situation erahnen. Im Badezimmer, dem Ort des familiären Rückzugs, erzählt der kleine Julien eines Abends spontan von Bauarbeitern, die sich unweit des Hauses an der Straße zu schaffen machten. Der Blickwechsel, der sich daraufhin zwischen den Eltern Marthe (Isabelle Huppert) und Michel (Olivier Gourmet) entspannt, lässt an Deutlichkeit nicht zu wünschen übrig: „Diesmal kommen sie“, sagt er, während sie scheinbar teilnahmslos die Schultern zuckt. Sie, das sind die Last- und Personenwagen, die in Kürze zu tausenden an dem Eigenheim vorbeidonnern und die ohnehin prekäre Existenz ganz verunmöglichen werden.

Ursula Meier, die an der Filmschule Brüssel studierte, inszeniert diese „Vertreibung aus dem Paradies“ lustvoll, souverän und mit einem Hang zu formaler Strenge. Die Unerbittlichkeit, mit der sie die Realität der Mobilitätsgesellschaft darstellt, erinnert nicht von Ungefähr an die belgischen Brüder Dardenne; auch in deren „Rosetta“ trennt die Autobahn die Landschaft gewaltsam in zwei Teile und zwingt die Heldin zum täglichen Spießrutenlauf. Die dramaturgische Entwicklung des Films hingegen, der wie in einem Labor menschliche Verhaltensweisen in einer Extremsituation durchspielt, lässt an Michael Haneke denken. Wie der Österreicher in „Wolfzeit“ verdichtet die Schweizerin in „Home“ die Handlung zu einem huis clos, in dem die einzelnen Familienmitglieder ihre je eigene Form der Verbunkerung gegen Lärm, Gestank, Belästigung und Verschmutzung wählen. Trotzt die ältere Tochter, Judith, hoch pubertierend auf dem Liegestuhl den Immissionen, wird die jüngere, Marion, im Zustand der Bedrohung zur militanten Umweltaktivistin. Der Nachzügler, Julien, behauptet gegen alle äußeren Einschränkungen die kindliche Lust am Spiel – auch zwischen den Leitplanken.

Meiers Film, der dreifach mit dem Schweizer Filmpreis ausgezeichnet wurde (Bester Film, Bestes Drehbuch, Bester Nachwuchsdarsteller: Kacey Mottet Klein), überzeugt nicht nur durch eine spannungsreiche Konzentration auf das Jetzt, die jedes Zuvor und Danach ausschließt. Sondern auch durch ein frankofones Staraufgebot, das die Nachwuchsregisseurin offensichtlich zu bändigen verstand. Isabelle Huppert spielt die Rolle der Mutter, die an den Rand des Wahnsinns gerät, in der ihr eigenen Mischung aus kühler Distanziertheit, Verletzlichkeit und schroffer Abweisung. Olivier Gourmet, von dessen Leinwandpräsenz eine latente Gewaltbereitschaft ausgeht, bringt die Ambivalenz zwischen liebendem und überfordertem Familienvater physisch vibrierend zum Ausdruck. Im Unterschied zu den Dardennes und Haneke, deren Werke eine klare Zuordnung zum sozialen oder psychologischen Drama anstreben, entzieht sich Meiers Film jedoch der eindeutigen Genrezuordnung. „Home“ changiert zwischen Komödie und Tragödie, sozialem Realismus und Märchen, ökologischer Fabel und Mythos – und bleibt dadurch für unterschiedliche Lesarten offen. Gemeinsam ist den Interpretationen der parabelhafte Ansatz: die Bewegung aus der Erstarrung in den Aufbruch – oder der menschliche Überlebenswille. NICOLE HESS

■ „Home“. Regie: Ursula Meier. Mit Isabelle Huppert, Olivier Gourmet u. a. Schweiz/Frankreich/Belgien 2008, 97 Min.