Lehm auf die Narben der Teilung

Als im Januar 1985 DDR-Grenztruppen die mitten im Grenzstreifen der Berliner Mauer gelegene Versöhnungskirche sprengten, war die Welt empört. Heute lädt an der Bernauer Straße eine moderne Lehmkapelle zur zeitgeschichtlichen Spurensuche ein

von NINA APIN

Bernauer Straße. Spaziergänger wandern auf dem Trampelpfad, der wie eine Schneise durch unbebautes Gelände führt. Ein älteres Ehepaar bleibt vor den Schwarzweißfotos an einem grünen Drahtzaun stehen. „Diejenigen, die das zu verantworten haben, sind heute wieder in der Regierung!“, ruft der Mann erregt und zeigt mit dem Finger auf das Bild eines Kirchturms, der, vom Kirchenschiff getrennt, schief in die Luft ragt, im Begriff zu fallen.

Das Foto zeigt die Sprengung der 1894 erbauten Versöhnungskirche. Das neogotische Gebäude stand nach dem Mauerbau mitten auf dem Todesstreifen zwischen Ost und West. Im Januar 1985 sprengte die DDR zur „Erhöhung der Sicherheit und Sauberkeit im Grenzbereich“ die Kirche. Das Bild des aufrecht in den Grenzstreifen stürzenden Kirchturms ging um die Welt. In 28 Jahren deutscher Teilung sorgten gerade Bilder vom Grenzübergang Bernauer Straße immer wieder für Empörung: Menschen, die verzweifelt aus dem Fenster sprangen, spektakuläre Fluchtversuche durch selbst gegrabene Tunnels. Hier, zwischen den Bezirken Wedding und Mitte, wurden Wohnhäuser von der Mauer geteilt, zur „Sicherung“ des Grenzstreifens zwangsevakuiert und später abgerissen. Allein der Turm der Versöhnungskirche überragte trotzig die Mauer. Ein Anblick, der besonders der kirchenlosen Gemeinde täglich die Brutalität und Absurdität der Teilung ins Gedächtnis rief.

Heute, 13 Jahre nach Fall und Abriss der Mauer, ist das Trauma der Teilung immer noch spürbar. Ein breiter Streifen wild wuchernder Vegetation trennt wie eine grüne Narbe die beiden Stadthälften. An der Ecke Bernauer und Ackerstraße steht wie vergessen ein Stück Mauer. Eine Tafel erinnert an „die Teilung der Stadt vom 13. August 1961 bis zum November 1989“ und gedenkt der „Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft“. Am Denkmal steht Hartmut Richter und erklärt einer Touristengruppe, wie der Alltag an der Bernauer Straße aussah: „Hier warste mit dem Kopp im Westen, aber der Hintern blieb im Osten“, witzelt der gebräunte 54-Jährige. Die Reisegruppe, ein SPD-Verein aus dem Münsterland, lacht. Zwei Stahlplatten umfassen 70 Meter komplett erhaltener Grenzanlagen. Schaudernd spähen die Besucher durch die Betonplatten der „Hinterlandmauer“ auf Laternen und Reste eines Wachturms im ehemaligen Todesstreifen. Links und rechts projizieren die verspiegelten Stahlwände die Mauer ins Unendliche, ein Werk der Kölner Architekten Kohlhoff & Kohlhoff.

„Wie hat die DDR denn Fluchthelfer bestraft?“, will ein junger Mann wissen. Hartmut Richter lächelt grimmig. „Fluchthelfer wurden als ‚Menschenhändler' verurteilt und ins Gefängnis gesteckt.“ Richter war selbst ein Menschenhändler. Nach seiner Flucht in den Westen schleuste er 33 DDR-Bürger im Kofferraum seines Pkw über die Grenze. Fünfeinhalb Jahre saß er dafür im Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen, bis ihn die Bundesrepublik freikaufte. Heute leitet er Führungen durch seine ehemalige Haftanstalt und die Bernauer Straße.

Richter führt seine Gruppe über die Straße. Das graue Betongebäude, das der Gemeinde seit 1975 als Kirchenersatz diente, birgt heute das Dokumentationszentrum Berliner Mauer. Eine Ausstellung über die zeitgeschichtlichen Hintergründe des Mauerbaus beantwortet Fragen, die bei der Besichtigung des Denkmals entstehen. Die Besucher lauschen der berühmten Mauerrede von Ulbricht und betrachten den Verlauf der Mauer auf einem Pappmodell. In einem kleinen Aktenraum finden sich auch Unterlagen, die den jahrelangen Kampf der Versöhnungsgemeinde um ihre Kirche dokumentieren. Seit 1967 erbaten Gemeindevertreter eine Besichtigung der Kirche, um Bauschäden zu inspizieren und wertvolle Kirchengegenstände wie den geschnitzten Altar zu bergen. Ein langer Briefwechsel zwischen dem Konsistorialpräsidenten von Berlin-Brandenburg und den DDR-Behörden folgte, bis ein Bescheid 1981 alle Hoffnung zunichte machte: „Der Bitte um die Verlagerung von Gegenständen aus der Versöhnungskirche kann aus unserer Sicht nur im Zusammenhang mit einem Abriss der Kirche erfolgen. Mit sozialistischem Gruß, Genosse Kreuter“.

Am grünen Drahtzaun empfängt die Besuchsgruppe der ganz in Schwarz gekleidete Manfred Fischer, der seit 1975 Pfarrer der Versöhnungsgemeinde ist. Mit sonorer Predigerstimme zitiert er die eigenen Worte, die er 1986 auf der Trauerfeier für die zerstörte Kirche sprach: „Symbole haben eine stille Kraft, Unmögliches zu verwandeln in Möglichkeiten.“ Triumphierend blickt Fischer in die Runde. „Fast war es unmöglich, aber wir haben es geschafft.“

Auf einer wild wuchernden Wiese mit Kornblumen steht ein eiförmiges, von einer luftigen Hülle aus Holzlamellen umhülltes Gebäude. Dass die „Kapelle der Versöhnung“ so gebaut wurde, grenzt tatsächlich an ein Wunder. Die von den Architekten Reitermann und Sassenroth geplanten Betonwände lehnte die Gemeinde vehement ab. In zähen Verhandlungen setzte sie durch, dass die Kirche aus gestampftem Lehm erbaut wurde, ein in den deutschen Bauvorschriften bisher nicht vorgesehenes Baumaterial. Durch Spenden, freiwillige Helfer und die kompetente Unterstützung des Tiroler Lehmbaumeisters Martin Rauch wurde die Vision von der ersten Lehmkapelle Deutschlands Wirklichkeit. Eine Kapelle, die zugleich ein durchdachtes Denkmal für die zerstörte Versöhnungskirche ist. „Sehen Sie sich um“, fordert Fischer die Besucher auf, die vorsichtig die rauen Lehmwände betasten. „Überall werden Sie in diesem modernen Bau Spuren der alten Kirche entdecken.“

Der innere Kern der Kapelle ist karg, aber freundlich. Die ovale Lehmwand, in der Steine der alten Kirche verarbeitet wurden, erfüllt den lichten Raum mit einem warmen, erdigen Geruch. Durch ein Fenster im Boden blickt man auf Fundamentbrocken der gesprengten Kirche und Steine aus der ersten Phase des Mauerbaus. „Wir wollen die Geschichte würdigen und gleichzeitig nach vorne schauen“, erklärt Pfarrer Fischer und blickt über den Kirchplatz, der den Grundriss des alten Gebäudes nachzeichnet. Dort glänzt das verbogene Turmkreuz in der Sonne. „Dies ist kein Mahnmal, sondern eine Dankeskirche. Dafür, dass die Mauer ohne einen einzigen Schuss gefallen ist.“

Die SPD-Gruppe aus dem Münsterland ist andächtig geworden. Ein junges Paar ist noch im Gebetsraum, sie flüstern und halten sich an den Händen. Sie schreibt ins Gästebuch der Kapelle: „Ein wunderbarer Ort. Wenn wir heiraten, dann hier.“