Wilde Andacht

Die norwegische Band The White Birch vereinte im Mudd Club Teenies mit Senioren, Rocker mit Maria-Lookalikes

Der bitterkalte Montagabend – wie geschaffen für die Annäherung an die Musik der Eis- und Klangbotschafter The White Birch. Wie sehr Klischee auch immer: Diese Norweger müssen Temperaturen unter Null Grad haben, um zu klingen.

Erst mal aber rein in die gut geheizte Mudd-Club-Höhle, wo nicht nur die eigene Brille beschlägt, sondern auch das großformatige Modell des begabten Musikers Erlend Øye, der sich als Teil der berlinorwegischen Community heute Abend eingefunden hat. Voll ist es, die kleine Bühne umzingelt von einem altersmäßig sehr ausdifferenzierten Publikum: Abiturienten und Seniorinnen, dazwischen alterslos Andächtige. Aber noch ist vor dem Auftritt, und die Zeit bis 22 Uhr geht mit beharrlichem Warten auf Bedienung am Tresen vorbei. Als die Musik dann anfängt, muss sie erst mal das Gefühl von ermüdendem Zeitverlust vertreiben. Was ihr mühelos gelingt: Gleich beim ersten Stück, „Stand Over Me“, fällt was Schweres von einem ab und das Herz geht auf. Das mit Gläsern klirrende Personal wird aus dem Publikum zur Ruhe ermahnt. Und The White Birch spannen eine Zeitlupe, ihre manchmal ins Mitreißende ausbrechende Langsamkeit ist vollständig langeweilefrei.

Die drei Norweger schaffen das mit einer jazzigen Version von End-Neunziger-Postrock. Bassist Ulf Rodge streicht mit dem Geigenbogen surrende Tiefen aus dem Bass, Tortoise und The Sea And Cake winken von fern. Die außerordentliche, hohe Stimme von Sänger Ola Flottum macht daraus dann etwas Psychedelisches, manchmal sogar Mittelalterliches, woran sich lieb verspielte Glockentöne anschmiegen. Vor allem aber erzeugen The White Birch Bilder – die, liest man sich durch die zahlreichen Rezensionen zum letzen Album „Come Up For Air“, in allen Zuhörerköpfen ähnlich auszusehen scheinen: vertonte Eisflächen, schneeflockengleich fallende Töne, Klänge, aus dem Hintergrund durchscheinend wie ein Lichtstrahl.

Live ergibt das, was da auf der Bühne sehr konzentriert passiert, eine hypnotische Wirkung – allerdings nicht depressiv wie bei ihren Vorbildern, den Altmelancholikern Codeine, sondern schon eher in Richtung Glückszustand. Ja, fast neigt man dazu, dem schlaksigen Ola mit seiner zu einem Horn geformten rotblonden Haardünung über der hohen Stirn, flankiert vom dunklen Ulf mit der souveränen Ausstrahlung und der schwarzhaarigen Keyboard-Schönheit Lisa Wittefield Showformat zuzusprechen. Wie sie sich konstant abwechseln an den Instrumenten – das ist ein schönes, stetiges Die-Bühne-Abzirkeln.

Dank meines Platzes quasi hinter der Bühne kann ich die Ergriffenheit in der ersten Publikumsreihe betrachten. Drei Frauen stehen da, ohne Getränk, ganz erfüllt vom Hinhören, eine hält lange Zeit die Hände vor der Brust gefaltet, wobei sie aussieht wie eine Marienstatue.

Nachdem fast alle sehr ruhigen Stücke des letzten und einige des drei Jahre alten Albums „Star Is Just A Sun“ das Publikum verzaubert haben, kündigt Ulf den nächsten Song an, „a very quiet one“, ach. Und stimmt. Leise Noten fallen so deutlich in die betonte Stille, dass sogar Zigarettenanzünden als Störgeräusch auffällt. Aber dann der U-Turn: Das fulminante alte „Beauty King“ reißt alles mit sich, plötzlich rast man mit dem Helikopter mit einem Zentimeter Abstand über die Eisfläche, und Ola und Ulf springen auf der Bühne herum.

Das ist schon Rock, Schluss mit Stille, auch die Andachtsfraktion hält inne und zeigt eine wildere Form der Begeisterung. Der Applaus schafft es, die zwei vorbereiteten Zugaben „Storm Broken Tree“ und „The White Birds“ einzufordern. Mehr gibt’s aber nicht, da sind die Osloer strikt. Was soll’s, dann fliegen wir eben heim durch die eisige Luft und träumen da weiter.IMKE STAATS