Große Schritte

Historisierend wuchtige Opulenz: Feridun Zaimoglu schildert in seinem tollen Bildungsroman „Leyla“ eine sehr fremde Lebenswelt

von KIRSTEN RIESSELMANN

Erst vor zwei Jahren scholl es aus dieser Zeitung: Wir wollen Zaimoglu nicht nur als begnadete Rampensau, als Standleitung ins deutsche Unterbewusstsein! Wir wollen ihn so richtig brauchen, und zwar als Dichter! Wir warten auf den Roman seines Lebens! Den großen deutschen Bildungsroman! Und der vom Feuilleton zum „deutschen Dichter“ Zwangsgeadelte hat sich beeilt. Der straßenkötrig-ingeniöse Kanaksprakster hat sich zum vollgültigen Romancier gewandelt, ist den Weg vom Loudass-Poeten zum finegetunten Großkünstler gegangen.

Mit „Leyla“ hat Zaimoglu eine Familiensaga geschrieben, der eine große Synthese gelingt: eine historisierende wuchtige Opulenz unter einen Hut zu bekommen mit einer detailgenauen, erdigen Schilderung einer sehr, sehr fremden Lebenswelt. War der Briefroman „Liebesmale, scharlachrot“ noch als Schnodderbarock zu verbuchen, hat sich die Schnoddrigkeit in „Leyla“ zugunsten einer Verpflichtung einem umsichtigen Realismus gegenüber verabschiedet. War der Geschichtenband „Zwölf Gramm Glück“ noch zerrissen zwischen zwei Settings – dem Diesseits deutscher Großstädte und einem geografisch unbestimmten Jenseits, einer irgendwie türkischen Sehnsuchtsprojektionsfläche – hat sich „Leyla“ festgelegt in Zeit und Ort: Damals, in der Türkei.

Aber von vorn. Eine Kleinstadt in Ostanatolien. Irgendwann in den Fünfzigern. Ein cholerischer Prügler, ein veritables Arschloch, reicht jeden Misserfolg als glückloser Geschäftemacher ohne viel Federlesens durch an seine auf dem Lehmboden der ärmlichen Hütte kauernde Familie. Leyla, die Erzählerin, ein Mädchen von anfänglich vielleicht sieben, acht Jahren, nennt diesen Vater nur „den Mann meiner Mutter“. Sie ist die jüngste von fünf Geschwistern, einer stillschweigenden, demütigen Leidensgemeinschaft, immer in Angst vor dem nach Hause kommenden Schläger, der seinen patriarchalen Machtanspruch mit den paar Stellen im Koran zementiert, die er lesen zu können vorgibt: „Hier steht es, ihr seid meine Untergebenen. Der Schlüssel zum Paradies ist in meinen Händen, ihr Hundebrut! Nicht ich habe die Regeln aufgestellt, sondern der Erhabene, dessen Namen ihr nicht in den Mund nehmen dürft, so schmutzig seid ihr.“

Die Regeln, das sind Anstand, Scham und Fleiß; sie gelten vor allem für die weiblichen Mitglieder der Familie. Der Vater selbst geht fremd, während die knospenden Brüste der pubertierenden Mädchen platt geschnürt, das menstruierende „Das-da-unten“ als Schande verbunden und jede Gesichtsregung hinter dem Schamtuch verborgen werden. Sofortige Ohnmacht ist die opportune Reaktion auf sexuelle Anspielungen, ein Blick auf die Kinokassiererin, eine Zigaretten rauchende „Schminkmaus“, ist einen verbotenen Nachtausflug wert. Zäh scheuern zaghafte Ansätze von Modernisierung am Korsett einer archaischen Geschlechter- und Gesellschaftsordnung.

Atemberaubend bedrückend stellt sich für Leyla immer wieder die Frage: Was bleibt uns anderes übrig, als zu gehorchen? Dicht schildert Zaimoglu durch Leylas Augen den Alltag in dieser Frauenwelt – eine Gemengelage aus Aberglaube, Angst, weiblicher Solidarität und einem tief verwurzelten praktischen Wissen. Diesem Wissen zollt Zaimoglu Respekt durch eine sich lustvoll an der Mannigfaltigkeit der Wörter berauschende Detailgenauigkeit. Da stemmen sich die Pferde ins Kumt und werden Haare zu Nackenzöpfen aufgesteckt. Da werden Hemdhosen aus scheuerndem Nesseltuch getragen, Chininsulfatseife-Bäder in mit Dauben beschlagenen Zubern genommen und lange Beschreibungen mit Filetnadeln, Baumwollbatisten, Fadengebern, Steppfüßen und Druckkattunen bestückt.

Die fast magische Anrufung von Alltagsgegenständen bildet ein notwendiges Gegengewicht zu den täglichen Missbrauchserfahrungen – Leyla ist eine virtuose Erzählerin. Und sie entwickelt langsam, ganz langsam eine eigene Schläue. Als die Familie nach Istanbul umzieht, hat sie begriffen, dass sie nur eine Fluchtmöglichkeit aus dem Machtbereich des Vaters hat: die Hochzeit. Auch wenn sie sich äußerlich nur dem nächsten Mann unterwirft – sie beginnt, die Bedingungen sublim selbst zu gestalten. „Mein Herr, ich will von Ihnen elektrische Liebesgaben – damit wir uns richtig verstehen“, so brieft sie ihren Zukünftigen beim ersten Kennenlernen. Der aber will gleich nach der Hochzeit fort, nach Deutschland. Weil da die Menschen „nicht gleich zum Messer greifen, wenn ein Streit ausbricht“, weil sich „jeder an die Regeln hält“. Diese Sehnsucht nach den allgemein gültigen Regeln – jenseits der willkürlichen Gesetze der Männer – werden auch Leyla dazu bringen, sich am Ende des Romans in den Zug zu setzen, zusammen mit ihrem ersten Sohn, der erst in Deutschland einen Namen – Feridun? – bekommen soll.

„Leyla“ ist ein tolles Buch. Weil es sich keine Außenposition erlaubt, die wertet und moralisiert. Weil es mit den Augen einer durchweg überzeugenden Erzählerin eine Vergangenheit aufschließt, die verdammt fremd ist. Weil es dieses Gestern dabei aber nicht glorifiziert und nicht dämonisiert, sondern einfach anschaulich macht – in all seiner alltäglichen Härte, Brutalität und Schönheit. Zaimoglu tätigt an keiner Stelle eine generalisierende Aussage, weder ein „Wie gut, dass wir da rausgekommen sind“ noch ein „Da hinten liegt unsere wahre Identität“. Er lässt an der Geschichte einer einzigen Frau nur die Größe des Schritts sichtbar werden, den viele Türken gegangen sind, als sie sich für ein Leben in Deutschland entschieden. Deswegen ist „Leyla“ tatsächlich ein Bildungsroman geworden.

Feridun Zaimoglu: „Leyla“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006, 525 Seiten, 22,90 Euro