Oh, wie schön ist Zanzibar

Aus den Archiven Paris 1968: Ein Maler und ein Junge stehen in der Wüste und beschimpfen die Welt des Nordens. Die wiederentdeckte Filmgruppe „Zanzibar“ bringt seltsame Filme ins Arsenal, von Modells, Künstlern, Schauspielern

Das Model Zouzou hieß „La Twisteuse“, die beste Twisttänzerin der Pariser Clubs

Die Kunst- und Filmhistorikerin Sally Shafto stieß Ende der 90er-Jahre bei der Recherche zu ihrer Dissertation über Godard auf eine glamouröse Filmgruppe mit dem Namen „Zanzibar“ aus den Jahren um 1968. Der Name verweist sowohl auf ein Gedicht von Baudelaire als auch auf die damals maoistisch regierte Insel Sansibar, ein nie erreichtes Reiseziel der Gruppe. Wahrscheinlich wären ihre immerhin 13 Filme nie zustande gekommen, wenn es nicht eine echte Mäzenin gegeben hätte, die Erdölerbin Sylvina Boissonnas, die „Zanzibar“ mit zustimmender Sympathie und so viel Geld unterstützte, dass alle auf 35 mm drehen konnten.

Shafto trägt nun seit einigen Jahren die Film-Kopien zusammen, hat ein hübsches blau und rot gedrucktes Heftchen zu „Zanzibar“ veröffentlicht und organisierte eine Wiederzusammenkunft der Gruppe. Die Filmhistorikerin wird zu der heute im Arsenal startenden Retrospektive, die Marc Siegel organisiert hat, erwartet. Feiert man doch eine ungewöhnlich umfangreiche Ausgrabungsarbeit.

In nur zwei Jahren entstanden die Filme des informellen Kollektivs. Bis auf Philippe Garrel sind die anderen Beteiligten nicht als Filmemacher bekannt: Caroline de Bendern und Zouzou waren professionelle Models. Zouzou hieß damals „La Twisteuse“, weil sie als die beste Twisttänzerin der Pariser Clubs bekannt war. Caroline de Bendern galt als „Marianne des Mai 68“, denn ein Foto von ihr auf den Schultern eines militanten Demonstranten, die Vietnamfahne schwenkend, war um die Welt gegangen. Andere waren Schauspieler wie der hinreißende Pierre Clémenti, der mit Bertolucci, Pasolini, Glauber Rocha und Rivette drehte, oder Maler wie der Schweizer Olivier Mosset, der zusammen mit Daniel Buren gegen den damals vorherrschenden Kunstbegriff rebellierte. Die Cutterin Jackie Raynal, die mit Eric Rohmer gearbeitet hatte, wird ihren feministischen Zanzibar-Film „Deux Fois“, 1968 gedreht, auf dem diesjährigen Forum Expanded zur Berlinale mit 40-jähriger Verspätung vorstellen. Serge Bard, der den ersten Zanzibar-Film überhaupt drehte, hatte an der für die Mai-68-Proteste so wichtigen Universität von Nanterre sein Soziologiestudium abgebrochen und Cohn-Bendits erste Reden erlebt.

Sie waren Dandys, die ein sehr puristisches Konzept vom Filmen hatten: wenig Schnitte, wenig Dialoge, die direkte Adressierung der Zuschauer, eine Obsession für 360-Grad-Schwenks und ein Off-Ton, der an die Lautgedichte der Lettristen erinnert. Das Schwarz-Weiß ihrer Bilder lotete die extremen Möglichkeiten von Grauwerten, Licht und Schatten aus. In dem Film „Fun and Games for Everyone“ von Serge Bard wurde das von Henri Alekan belichtete Material so hart kopiert, dass die Ausstellungseröffnung des Malers Olivier Mosset zu einem Reigen von Bourgeoisie-Fossilien, schönen jungen Menschen und den abstrakten Ringen des Malers wird, untermalt von Vernissagen-Talk und hypnotischem Freejazz. Den wiederum spielen der Saxofonist Barney Wilen und der amerikanische Drummer Sunny Murray, der damals schon seit einigen Jahren in Paris lebte.

Die Bewegungen hin und her über den Atlantik waren überhaupt vielfältig: Der Schriftsteller und Kritiker Alain Jouffroy hatte seit Beginn der 60er-Jahre amerikanische Pop-Art in Paris gezeigt. Der Warhol-Darsteller Taylor Mead brachte die New-American-Cinema-Filme nach Paris und organisiert dort Privatvorführungen. Philippe Garrel fand in Nico seine große Muse. De Bendern hatte in New York die Factory aufgesucht und sah dort die ersten Warholfilme. Das geheime Zentrum der Gruppe, die Cutterin Jackie Raynal, besuchte James Baldwin in Istanbul. Und die „Cinematons“ von Gérard Courant sind stumme dreieinhalbminütige Porträts, in der sich jede Person vor der Kamera selbst inszeniert, mit starken Reminiszenzen an Warhols Screen Tests.

„Détruisez-Vous“ (Zerstören Sie sich selbst) von Serge Bard ist nach einem Graffiti an der Kunstakademie benannt und in Nanterre gedreht. Ein fast leerer Hörsaal, ein dozierender Professor, der am Schluss das Pult verlässt, und eine junge Frau, gespielt von de Bendern, denken über die Revolution nach. Wie auch in dem etwas später gedrehten „Acephale“ von Patrick Deval – der nächsten Dienstag Gast im Arsenal sein wird – sind die Landschaften des rebellischen Neuanfangs in diesen Filmen karge Gerölllandschaften, rohe Orte zwischen Dystopie und Utopie. In „Acephale“, dem „kopflosen Menschen“ mit den vielfachen Bezügen zu Georges Bataille, bewegt sich eine führerlose Gruppe ephebischer junger Menschen über Brachen, durch Wälder, in Höhlen und Eisenbahntunneln dem Licht entgegen.

Einer der seltsamsten Filme der Reihe ist David Pommereulles „Vite“: ein surrealer Antikolonialfilm, der die trocken-wütende Verzweiflung über das Scheitern der 68er Revolte in sich trägt. Der Maler und Bildhauer Pommereulle steht mit einem marokkanischen Jungen in der Wüste und beide beschimpfen und bespucken zischend die Welt des Nordens: hässlich, ein Abfalleimer sei sie, aus dem es schrecklich stinkt. Die Balafonmusik im Hintergrund setzt die Möglichkeit einer anderen Welt spürbar in Szene, ohne ein einziges Bild. Und zwischendurch sehen wir in den Weltraum: Der Filmemacher hat die große Mitchell-Kamera mit einem Questar-Teleskop gekoppelt. Der ferne Mond scheint plastisch wie nie zuvor.

MADELEINE BERNSTORFF

Die Reihe der Zanzibar-Filme beginnt heute um 19 Uhr im Arsenal mit „Détruisez-Vous“. Infos unter www.fdk-berlin.de