Drei Lieder bis zur Reizüberflutung

Alle Regler bis zum Anschlag: Nintendocore nennt sich die Musik von Formationen wie Horse the Band und Gtuk. Am Donnerstag traten sie im Cassiopeia auf und sorgten für glücklichen Wahnsinn sowie dicke Luft im Zuschauerraum

„This is a new science“ war der Satz, mit dem Horse-the-Band-Sänger Nathan Winnecke das Konzert seiner Band am vergangenen Dienstag eröffnete. Eine Stunde benötigten die Kalifornier im Cassiopeia, um zu zeigen, wie diese neue Wissenschaft funktioniert – ohne Reagenzgläser oder sonstige Laborhilfsmittel. Die lagen nämlich bereits unter dem Tisch, in alle Einzelteile zerlegt, als Keyboarder Erik Engstrom die ersten Töne aus seinem Korg-Synthie auf die Menge losließ.

Der Abend wurde jedoch von einem ganz anderen Wissenschaftler eröffnet. Gtuk sein Name, was so viel heißt wie „Grüner Tee und Kuchen“. Der junge Mann schien während der heimischen Soundtüfteleien zu seinem eigenen Experiment geworden zu sein und hat dabei offensichtlich seinen Verstand verloren: In Strampler, mit Latzmütze und einem Kinderkassettenrekorder in der Hand stand er auf der Bühne und drehte an den Knöpfen seines Keyboards. Beim Auftakt des ersten Liedes sprang Gtuk wie vom Blitz getroffen in die Menge und zappelte sich eine Runde durch den Raum.

Zusammen mit seiner Musik gab der Berliner eine abgefahrene One-Man-Freakshow und riss Teile des Publikums mit in den Wahnsinn. Sein Sound erinnerte an die Musik des Gameboy-Klassikers „Tetris“, so, wie sie jemand auf Speed erleben würde. Über den irrlichternden Gameboy-Synthies ätzte seine Stimme, die sich phasenweise so anhörte, als würde er eine Tafel mit langen Fingernägeln entlangschrammen. Einigen Zuschauern gefiel der Berliner Dr. Seltsam so gut, dass sie andauernd den Kontakt zu ihm suchten – ob nun mit ausgestrecktem Daumen oder Rückenklopfern.

Gtuk schien diese Annäherungsversuche ein wenig aus dem Konzept zu bringen. „Ey, du Arsch, ich hab ADHS, du machst mich nervös“ oder „Pass auf mein Kabel auf“ waren die Worte, die er für seine neuen Freunde übrig hatte.

Höhepunkt des Konzertes war ein Lied, an dem Gtuk zeigte, wie sein Songwriting funktioniert: Zuerst loopte er einen Beat, den er unter zuckenden Bewegungen in den Computer hämmerte. Dasselbe Prozedere wiederholte er dann mit zwei Tönen, aus denen ein normales Gtuk-Stück besteht. Zu guter Letzt drehte er den BpM-Regler bis zum Anschlag auf und sprang wieder einmal übermütig in die Menge.

Nach 20 Minuten war der Spaß vorbei. Zeit, sich auszuruhen. Die brauchte man auch, bis die Berliner Combo Call me Betty die Bühne enterte. Ihre Musik glänzte zwar durch einfallsreiche Zählzeiten und rhythmische Verschiebungen, passte aber nicht so recht zum Headliner. Womit wir wieder bei Horse The Band wären. Sänger Nathan hatte einen gebrochenen Arm. Etwas verloren stand er am Anfang des Konzertes am rechten Bühnenrand und warf verstohlene Blicke Richtung Keyboarder Erik Engstrom.

Dieser übte derweil fleißig sein Mienenspiel, das ein wenig an Jack Nicholsons Gesichtskrimieinlagen aus „The Shining“ erinnerte. Der Keyboarder bestimmte den Sound mit seinem Synthie, doch die Bühnenshow von Horse The Band lebte gerade durch das Zusammenspiel der beiden Frontfiguren: Nathan, der introvertierte, und Erik Engstrom der extrovertierte Psycho. Letzterer reagierte sehr divenartig, als die ekstatische Menge sein Tasteninstrument berührte. „I will kill you, if you touch my keyboard again!“

Nintendocore wird die Musik der Band genannt. „Birdo“, der erste Song an diesem Abend, trat eine Welle los, deren Gewalt das Publikum schon nach dem ersten Takt erfasste. Die Beats moshten, die Synthies flirrten und die Gitarre kreischte. Die Luft im Zuschauerraum wurde dicker, denn Horse the Band haute ihre besten Songs direkt nacheinander raus: „Bunnies“, „Sexraptor“ und „New York City“ – drei Lieder, die zur finalen Reizüberflutung führten.

Auch am Publikum ging der nervenaufreibende Reigen nicht spurlos vorüber: Am Ende sah man Menschen, die ihren Kopf im Takt des Schlagzeugs gegen die Wand kloppten oder benommen in der Ecke lagen.

LUKAS DUBRO