Subversive Käfer

Die Insignien des Verfalls spielte eine wichtige Rolle in den Stillleben des Barock, in den Stillleben des 20. und 21. Jahrhunderts dagegen wird nicht mehr mit Symbolen gearbeitet. Zu sehen ist das in einer Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle, die sich mit mit Stillleben aus fünf Jahrhunderten befasst

VON PETRA SCHELLEN

Ach, war das eine Lust, all die Käferchen zu malen! Die angebissene Birne zu zeichnen und die blühende Tulpe! Großes Vergnügen muss den Malern barocker Stillleben bereitet haben, was eigentlich als verpönt galt: die Darstellung des Unvollkommenen, durchsetzt von Insignien des Verfalls. Denn einerseits sind die Blumensträuße, die in der Ausstellung „Spiegel geheimer Wünsche. Stillleben aus fünf Jahrhunderten“ in der Hamburger Kunsthalle zu sehen sind, schon prunkvoll. Andererseits haben die Maler durchaus ein bisschen manipuliert: Sie ließen zum Beispiel alle Sorten gleichzeitig blühen, um dem Traum von der Gleichzeitigkeit alles Schönen Gestalt zu geben.

Aber das war noch nicht alles: Man fügte Käfer hinzu, Falter und Fliegen. Symbole und Indikatoren des Verfalls. Das Subversive. Doch mit der schlichten, barocken Botschaft der ständig drohenden Vergänglichkeit begnügte man sich nicht; die Zusammenhänge waren komplexer. Denn eigentlich waren Adlige und reiche Kaufleute die Auftraggeber dieser Bilder, und da stellt sich schon die Frage, warum sie nicht ungetrübt Prunk, Fülle und Ästhetik sehen wollten.

Die Antwort ist schlicht: Natürlich war man sich dessen bewusst, dass die zugehörigen Genüsse vergänglich waren und nicht immer vereinbar mit der christlichen Moral. Deshalb liebten sie es einerseits sehr wohl, ihre Preziosen – Prunkschalen, Antiken, teure Stoffe – vorzuführen. Trotzdem wollten sie auch Vergängliches auf diesen Bildern sehen – wie um sich selbst daran zu erinnern, dass das Glück jederzeit kippen konnte.

Die Auftraggeber wollten nicht vergessen, dass Schein und Sein divergierten und dass die oberflächlich schöne Tulpe durchaus von Käfern befallen sein konnte. Dass außerdem eine Lust an der Dekadenz und an Zweideutigkeiten eine Rolle spielte, ist selbstverständlich. Denn fast immer lässt sich Obst, Geschirr und Getier sowohl christlich als auch weltlich deuten. Der Apfel etwa steht einerseits für den Sündenfall, andererseits für sinnlichen Genuss ganz allgemein. Blumen symbolisieren die Verherrlichung Gottes, aber auch, da schnell welkend, die Vergänglichkeit. Und so weiter.

Ziel der barocken Stillleben-Maler war es außerdem, den Betrachter zu reizen. Zur Beunruhigung etwa, wenn die Teller so auf der Tischkante stehen, dass sie eigentlich fallen müssten. Zum spontanen Speichelfluss, wenn die noch feuchte Schnittfläche der Zitrone genau zum Betrachter schaut.

Womit man auch schon beim zweiten Fokus der Hamburger Ausstellung wäre: der Technik der Augentäuschung, des schon in der Renaissance erfundenen Trompe l’oeil. Klarstes Beispiel sind die gemalten Kunstkammerregale des 17. Jahrhunderts – perspektivisch realistische Regale mit Preziosen des Auftraggebers; Vergänglichkeitssymbole – ein Totenschädel oder eine Muschel etwa – immer inklusive.

Und weil das alles so schön sinnlich ist und die Hamburger Ausstellung didaktisch sein will, hat man das „Kunstkammerregal“ des Johan Georg Hinz nebenan gleich nachgebaut, bestückt mit Exponaten des Museums für Kunst und Gewerbe. Das ist einerseits eine beschämend schlichte Übersetzung des Gemäldes in die Dreidimensionalität. Andererseits ein origineller Zugang: Hier kann man anhand des Vergleichs ganz konkret prüfen, ob die perspektivische Täuschung des Malers überzeugt.

Man sieht: Diese Ausstellung möchte originell, taktil und lehrreich sein – und ist dabei manchmal über die Stränge geschlagen. Der Erkenntniswert der Goldleder-Tapeten von 1670 etwa erschließt sich nicht. Denn trotz aller Beschwörungen auf den Texttafeln sind deren Ranken aus Sicht des heutigen Betrachters keineswegs „faszinierend echt“. Ein überflüssige Bevormundung, die nicht jeder schätzt.

Auch begreift man schwer, warum die Kuratoren der Kunsthalle Werke verschiedener Jahrhunderte bunt gemischt haben. Denn mehr als ein sehr grober thematischer Bezug stellt sich nicht – der Titel „Stillleben“ ist schließlich nicht geschützt. Auch bleibt unklar, aus wes Jahrhunderts Perspektive man denn bitte schauen soll: ob vom Besucher Einfühlung oder Distanz erwartet werden.

Die toten Hasen und Fasane auf den Jagd-Stillleben Jan Weenix’ etwa sollen keineswegs Mitleid mit der erschossenen Kreatur erzeugen. Meist bluten die Kadaver auch gar nicht, sondern liegen friedlich schlafend da, mit schön weichem Fell. Diese Gemälde sollten die Macht des Jägers über die Natur demonstrieren, punctum. Zudem waren die Maler auf die exakte Darstellung der Anatomie bedacht. Auch hier ist die Didaktik der Ausstellung recht verkrampft: In einem verdunkelten Raum werden etliche Jagdstillleben präsentiert, die dann und wann ein greller Spot beleuchtet. Ganz zu sehen bekommt man die Bilder nicht und wird, abermals bevormundet, ein bisschen ungeduldig.

Bleibt die Moderne: Thomas Demand, der Illusionist, der Pressefotos aus Papier nachbaut, und sie dann abfotografiert, hat die Schau mitbestückt. Ein von Jörg Sasse fotografierter halb geöffneter Schrank ist zu sehen – sowie ein halb vorgezogener Vorhang desselben Künstlers. Ja, sie spielen mit der Täuschung, sie praktizieren die Technik der Verhüllung. Und dass das „Rainfilled Suitcase“ Jeff Walls – ein offener Koffer auf der Straße inmitten von Müll – ein Stillleben ist, sei zugestanden. Genauso offensichtlich ist aber, dass sich die Stillleben der Moderne fundamental von denen etwa des Barock unterscheiden: Die Künstler des 20. und 21. Jahrhunderts haben keine kunstvollen Arrangements erstellt und es ginge entschieden zu weit, Symbole in sie hineinzulesen. Spots auf Zufälliges, gelungene Collagen haben diese Künstler geschaffen und so das Genre komplett neu definiert. Sie haben das Zufällige mitgedacht – inklusive der Tatsache, dass sich solche Arrangements freier deuten lassen, als ihre Vorläufer.

Letztlich haben also eine Demokratisierung und eine Popularisierung des Genres stattgefunden. Denn das Wissen um die Symbole des Stilllebens ist nicht mehr einem kleinen Kreis elitärer Auftraggeber und Kenner vorbehalten, sondern kann von jedem frei gedeutet, quasi neu erfunden werden. Dies zu zeigen ist ein Gewinn der Schau. Es anhand eines oft unübersichtlichen Mixes von Werken verschiedener Jahrhunderte zu zeigen, ein Defizit. Aber nur ein kleines.

Die Ausstellung „Spiegel geheimer Wünsche. Stillleben aus fünf Jahrhunderten“ ist bis 5. 10. in der Hamburger Kunsthalle zu sehen.