„Leben ist eine Ausnahme“

Chiralität ist kein populärer Begriff. Dabei bezeichnet er die Signatur des Lebens: Das ist erst möglich, wenn Aminosäuren eine Linkstendenz haben – und wahrscheinlich stammt es aus dem All. Der Bremer Chemiker Wolfram Thiemann sucht nach präbiotischer Händigkeit auf dem Mars und einem Kometen

PROF. DR. WOLFRAM THIEMANN, 70, Chemiker, ist 1976 vom damaligen Kernforschungszentrum Jülich an die Uni Bremen gewechselt, um „eine mit bewaffneten Wachmannschaften ‚beschützte‘ Institution gegen eine in jedem Sinne freie Arbeitsstätte“ einzutauschen. Forschungsschwerpunkte sind, neben dem Lebensthema Chiralität, die Umwelt-, insbesondere Gewässer-Chemie. Als Gastprofessor lehrte der seit 2003 emeritierte Wissenschaftler insbesondere in China, Ägypten und Indien. FOTO: BES

INTERVIEW BENNO SCHIRRMEISTER

taz: Herr Thiemann, bei der Marsmission suchen Sie nach der Signatur des Lebens. Also nach Wasser?

Wolfram Thiemann: Nein, wenn da Wasser vorkommt, heißt das doch nicht, dass es dort auch automatisch Leben gab. Das ist keineswegs zwingend. Dass man das angenommen hat, zeigt für mich nur, wie beschränkt man gerade bei der Lebensfrage ist: Ein Leben, das ganz anders zusammengesetzt ist als unseres, können wir uns nicht vorstellen.

Wie könnten wir uns dem denn annähern?

Es gibt ja sehr viele Versuche, Leben zu definieren. Ich bin der Meinung, Leben ist eine Ausnahme, der es gelingt, sich eine Zeit lang auf Kosten ihrer Umwelt zu behaupten: Leben, die Evolution, steht im Grunde in einem Widerspruch zum zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, zur Entropie. Um nach Leben zu suchen, muss man nach einer Abweichung suchen.

Und welche Abweichung suchen Sie?

Wir suchen auf dem Mars in bis zu zwei Metern Tiefe nach Aminosäuren. Und mit derselben Analytik arbeiten wir bei der Rosetta-Mission – das ist im Grunde noch viel ambitionierter– auf einem Kometen. Wenn das funktioniert, ist für uns die spannende Frage, ob interessante organische Verbindungen dort entdeckt werden – und, ob solche dann homochiral sind: Die Chiralität hätte Bedeutung für die Frage nach dem Ursprung des Lebens.

Nur was heißt Chiralität? Und was hat sie mit dem Leben zu tun?

Hm. Ich glaube da muss ich ein bisschen ausholen. Wie viel Zeit haben Sie?

Ich würde es ja gerne verstehen …

Dann würde ich bei Louis Pasteur beginnen …

also Ende des 19. Jahrhunderts.

Pasteur hat mithilfe von polarisiertem Licht entdeckt, dass Weinsäure in drei verschiedenen Formen auftritt: Entweder wird das durchgeleitete Licht nach links, nach rechts – oder gar nicht abgelenkt. Dabei hat er beobachtet, dass diese Ablenkung bei natürlicher Weinsäure immer nur in einer Richtung erfolgt – also händig ist, oder chiral – und dass sie bei künstlicher gar nicht stattfindet: Den Zustand hat Pasteur razemisch genannt, von Racema, die Weintraube. Das Phänomen lässt sich auf die molekulare Struktur zurückführen: Weinsäure kristallisiert entsprechend. Der makroskopische Effekt, dass das polarisierte Licht in einer Richtung abgelenkt wird – ist also ein Ausfluss der Nanostruktur der Natur.

Aber was gab es da noch zu erforschen?

Für mich, persönlich? Ich hatte, direkt nach meiner Promotion das Glück, beim Aufbau eines chemischen Instituts im heutigen Forschungszentrum Jülich mitzuarbeiten – mit einem Thema meiner Wahl. Und da war eine Sache, die mich seit meinen ersten einführenden Vorlesungen an der Uni München in Organischer Chemie nicht losgelassen hatte.

Die Chiralität?

Die Frage, wie es zu diesem Unterschied kommt: Dass natürliche und synthetische Säuren identisch waren – mit der einen Abweichung, dass die letzteren immer razemisch, die natürlichen aber stets homochiral sind. In den Lehrbüchern stand dazu nur: Die Natur macht das so. Warum – dazu fand man nichts, das wurde nicht erklärt. Die Frage habe ich zum Forschungsgegenstand erhoben – ausgehend von dem Gedanken, dass es eben einen bislang übersehenen Unterschied geben könnte zwischen Enantiomeren, …

also den zueinander spiegelbildlichen Molekülen …,

… einen, nach dem nicht gesucht worden war.

Und?

Wir haben auf experimentellem Weg einen Effekt gefunden, indem wir die Weinsäuren zyklischen Prozessen unterworfen haben, die wir dann auf energetische Unterschiede untersucht haben. Tatsächlich weisen links- und rechtsdrehende Moleküle energetische Unterschiede auf: Die linksdrehende ist die energiebegünstigte Form. Und die Natur bevorzugt halt immer die energetisch günstigere Lösung.

Also eine chemische Evolution vor der biologischen?

Die Sache hat nur einen Pferdefuß: Die Unterschiede sind so minimal, dass sie sich nicht messen lassen. Und unser Ergebnis war, würde ich heute kritisch sagen, noch zu grobschlächtig.

Das hieße, der Unterschied könnte auch ein Zufall sein?

Ja. Aber ich persönlich sträube mich gegen die Annahme eines Zufalls, dass Gott gewürfelt hätte oder so etwas.

Auf der Erde kommen ausschließlich linksdrehende Aminosäuren vor …

Im Wesentlichen ja. Es gibt allerdings drei, auch wieder bezeichnende, Ausnahmen: Die eine sind Schlangengifte. Die bestehen aus chemisch relativ unauffälligen Substanzen. Ihre toxische Wirkung verdanken sie vor allem ihrer räumlichen Struktur, also den D-Aminosäuren. Das zweite sind Antibiotika, also Gifte, die Pilze entwickeln, um sich vor ihrer Umwelt zu schützen. Und das dritte sind die Zellwände von Bakterien. Aber statistisch fällt das nicht ins Gewicht. Die Aminosäuren in Proteinen sind jedenfalls immer L-Aminosäuren.

Das spricht doch sehr für Ihre Theorie?

Dass die Natur homochirale Formen bevorzugt, muss aber nichtzwangsläufig Effekt der Energiedifferenz sein: Ohne Chiralität würde es keine komplexen Moleküle geben, sondern nur chaotische Häufungen. Das kann man sich vorstellen, wie eine Schraube, die ein passendes Gewinde braucht. Wenn das in die falsche Richtung gedreht ist, knirscht es. Makromoleküle brauchen homochirale Baukästen.

Gibt es denn andere Erklärmodelle?

Der aktuell mächtigste Ansatz, den auch mein Habilitant Uwe Meierhenrich vertritt, geht von einer Entdeckung der 1930er-Jahre aus: Razemische Gemische reagieren photochemisch. Meierhenrich hat gezeigt, dass, bei Bestrahlung mit polarisiertem Licht, in dem Fall mit UV-Strahlen, eine der enthaltenen Substanzen bevorzugt zerstört wird – nämlich die rechtsdrehende.

Und warum suchen Sie diesen Baustein des Lebens gerade auf einem Kometen?

Das ist tatsächlich kein besonders lebensfreundlicher Körper. Es besteht auch keine Hoffnung, dort Spuren von Leben zu finden. Allerdings ist ein Komet sozusagen die ‚urigste Ursubstanz‘ unseres Sonnensystems. Und wir wissen, dass viel organisches Material auf Kometen vorkommt.

Die Suche nach dem Ursprung des Lebens im All hat durch zwei Entdeckungen von Wolfram Thiemann und Uwe Meierhenrich Auftrieb bekommen: 2002 haben sie Aminosäure bei der simulierten Entstehung eines Kometen im Labor nachweisen können. Zwei Jahre später haben sie ein Gramm des Murchison-Meteoriten analysiert – und dabei so genannte Di-Aminosäuren aufgefunden, den Ausgangsstoff der DNA. Das wiederum interessierte auch am Max Planck-Institut für Sonnensystemforschung in Katlenburg-Lindau im Südharz, wo die Exomars-Mission (geplanter Start: 2013) und die Projekte für die 2004 ins All geschossene Rosetta koordiniert werden. Diese Raumsonde soll als erste nach zehn Jahren auf dem Kometen 67 / P Churyumov-Gerasimenko landen. Sie hat sieben Groß-Experimente an Bord, darunter das von der Arbeitsgruppe Helmut Rosenbauer entwickelte CORSAC-Experiment, das organische Verbindungen identifizieren soll: Zu den Untersuchungen haben Thiemann und Meierhenrich die Chiralitäts-Analytik beigesteuert. Das Projekt zeichnet sich auch dadurch aus, dass es den Bogen zum menschlichen Leben schlägt.BES

Uwe Meierhenrichs: Amino Acids and the Assymetry of Life, Springer, 242 S., 69,90 Euro

Von Meteoriten, die auf der Erde gelandet sind?

Ja, wobei man da vorsichtig sein muss: Beim berühmten Orgueil-Meteoriten, der in Frankreich niedergegangen war, hat man auch Organik gefunden, sogar rezente Biomoleküle wie Fettsäuren.

Aber?

Die stammten von der Erde: Das lag an einem unsachgemäßen Versuch, das Fundstück ‚vor Rost zu schützen‘. Der Bauer, auf dessen Acker der niedergegangen war, hatte ihn offenbar in Butterpapier eingewickelt. Allerdings gibt es auch Meteoriten, die über jeden Zweifel erhaben sind, den Murchison-Meteoriten aus Australien zum Beispiel, an dem wir vor sechs Jahren Untersuchungen durchgeführt haben …

…, die der Annahme, das Leben komme aus dem All, Auftrieb gegeben haben?

Das geht so in die Richtung, ja. Jetzt müssen wir warten, bis die Daten von der Marsmission und von Rosetta kommen. Das wird fast gleichzeitig sein, beides im Jahr 2014.

Womit rechnen Sie?

Also der worst case wäre: Beim Mars würde nichts gefunden –oder, wie es dann heißt: Die Werte lägen unterhalb der Nachweisgrenze, wovon man ja dann ausgehen müsste – und bei Rosetta bekämen wir einen „overflow“ an Daten, so dass keine richtige Auflösung möglich wäre. Bestenfalls bekommen wir mehr Belege für eine generelle Theorie à la Panspermia, also dass die ersten Bausteine des Lebens aus dem All auf die Erde gekommen sind.

Eine Klärung, wo das Leben entstanden ist. Aber die Frage: Wie?

Die bleibt.

Auch wenn die Aminosäuren linksdrehend wären? Wäre Ihre Theorie damit nicht bewiesen?

Nein, das wäre kein strikter Beweis. Im umgekehrten Fall, wenn eine starke Händigkeit in der anderen Richtung entdeckt würde, dann müsste man wahrscheinlich sagen: Vergesst alle deterministischen Thesen. Dann spräche viel für die Theorie vom polarisierten Licht, das die organischen Substanzen auf dem Weg durchs All je nachdem in links- oder rechtsdrehende verwandelt hätte, rein zufällig, so wie es sich gerade ergeben hat. Aber mir ginge das gegen den Strich.