Mehr Staat, mehr Bürgermacht

Nur starke Bürgermacht kann die soziale Demokratie gewährleisten, glaubt Mário Soares. Der große alte Mann Portugals diskutierte in der Berliner Bertelsmann-Residenz mit Wolfgang Schüssel und Paul Nolte

Die verbrauchte Zeit steht in eklatantem Missverhältnis zum Ertrag: Wer sich von Podiumsdiskussionen die tiefe Durchdringung eines Problemfeldes erwartet, ist selbst schuld. Dass sich am Dienstagabend in der Berliner Residenz von Bertelsmann Zuhörer aus 22 Ländern, darunter 14 Botschafter, einfanden, hatte seinen Grund wohl in der Anwesenheit von Mário Soares, Portugals großem alten Mann.

Der 1924 geborene Soares ist Mitbegründer der Sozialistischen Partei Portugals. Kurz nach der Nelkenrevolution, die 1974 Diktator Marcello Caetano stürzte, kehrte Soares, der viele Jahre im Exil leben musste, nach Lissabon zurück. Er übernahm den Posten den Außenministers und war als solcher treibende Kraft der Entlassung der portugiesischen Kolonien in die Unabhängigkeit. Er amtierte später als Premierminister und Staatspräsident des Landes. In Berlin stellte Soares sein eben auf Deutsch erschienenes Buch „Europa als Leuchtturm? Ein iberischer Dialog im europäischen und weltweiten Rahmen“ vor. Dabei waren außerdem Soares’ Koautor Federico Mayor Zaragoza, Biochemiker und langjähriger Direktor der Unesco, der österreichische Exbundeskanzler Wolfgang Schüssel und der Historiker Paul Nolte.

Das große Thema Soares’ und Mayors ist Europa als Motor einer sozialen Globalisierung im Zeichen der Demokratie. Beide sind stramme Sozialdemokraten, geißeln die Auswüchse neoliberaler Politik und konstatieren eine globale Führungskrise. Sie beklagen das Fehlen eines gemeinsamen politischen Projekts Europas, das „richtungslos vor sich hin schlingert“ (Soares) und so als reiner Wirtschaftsverbund erscheine. Da hakte Moderator Heiner Bremer nach: Hat die Kritik der 27 EU-Mitglieder an der russischen Anerkennung Südossetiens nicht eben bewiesen, dass Europa eine gemeinsame Außenpolitik betreiben könne? Und so wurde darüber gestritten, ob es angemessen sei, Russland zu kritisieren, wie Schüssel glaubt. Er vergleicht die Ereignisse in Georgien mit den ethnischen Säuberungen auf dem Balkan. Soares dagegen stellte Europas Rüffel in eine Reihe unnötiger Demütigungen Russlands.

Hinter dem Streit verbirgt sich die Frage, ob man überhaupt gemeinsame europäische Interessen identifizieren kann, was Paul Nolte verneint. Er benannte damit das Problem, dass das Projekt der Demokratisierung der Welt keineswegs deckungsgleich mit den konkreten Interessen der europäischen Staatengemeinschaft sein muss. Spätestens bei der Frage nach den Mitteln, um Demokratie überall durchzusetzen, werden die Widersprüche sichtbar. Europa traue sich nur nicht, seine strategischen Interessen zu formulieren, widersprach Schüssel. Seine Beispiele sind die Agrar- und Energiepolitik, die auch in Krisenzeiten die Versorgung der Bürger sicherstellen müsse. Europa dürfe nicht von wenigen Rohstofflieferanten abhängig sein.

Wer vom Buch von Soares und Mayor Antworten auf solche Fragen erwartet, wird enttäuscht. Denn es postuliert das Selbstverständliche – mehr Demokratie wagen – und verhandelt nahezu alle Weltprobleme, ohne auch nur eines davon wirklich im Detail zu analysieren. Das könnte auch an der Eitelkeit seiner Autoren liegen: Sie scheinen nämlich zu glauben, es reiche aus, sich einige Stunden zu einem Gespräch zu treffen, dieses dann zu transkribieren und zu veröffentlichen. Eine gedruckte Podiumsdiskussion aber mag nun wirklich niemand lesen.

Dabei entwickelt das Buch durchaus seinen Charme: Mit Verve formulieren sie ihre Vision, Staat und Bürgermacht gemeinsam gegen die unregulierte Macht des Kapitals in Anschlag zu bringen. Vielleicht fehlt uns gerade das Pathos, mit dem die beiden die Ideale der Aufklärung verteidigen. ULRICH GUTMAIR