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: Die Steine weinen

In Leo McCareys Melodram „Make Way For Tomorrow“ von 1937 schließen sich das Sanfte, das Böse und das Komische nicht aus

Regisseur Leo McCarey hat im Jahr 1937 zwei Filme gedreht. Die so rasante wie spielerische Screwball-Komödie „Die schreckliche Wahrheit“ und das so langsame wie berührende Melodram „Kein Platz für Eltern“ (im Originaltitel „Make Way For Tomorrow“ ist die Brutalität etwas versteckter). Der erste wurde ein Erfolg, der zweite nicht. Für den ersten erhielt McCarey den Oscar für die beste Regie, meinte in seiner kurzen Rede bei der Verleihung jedoch: „Schönen Dank, aber das war von den beiden der falsche Film.“ McCarey hatte recht, dabei ist ja auch „Die schreckliche Wahrheit“ ganz großartig.

Der Plot von „Kein Platz für Eltern“ ist sehr einfach. Ma und Pa Cooper, beide um die siebzig, laden ihre Kinder zu sich. Pa Cooper (Victor Moore) hat seinen Job verloren, und „jetzt verlieren wir“, teilen die beiden den Kindern mit, „unser Haus“. Die Kinder sind erst empört, dann entsetzt, als ihnen dämmert, dass sie die Eltern nun bei sich unterbringen müssen. Sie teilen sie unter sich auf. Das Ehepaar, das kurz vor der Goldenen Hochzeit steht, wird getrennt. Sie telefonieren, sie schreiben sich Briefe, beides selten, denn sie vermissen einander, aber nicht in Worten; was fehlt, ist des anderen Anwesenheit.

Mit den Kindern, bei denen sie leben, können sie so wenig anfangen wie diese mit ihnen. Ma Cooper (überzeugend gespielt von Beulah Bondi, die noch nicht fünfzig war) in ihrem quietschenden Schaukelstuhl stört die Schwiegertochter beim Bridge-Unterricht. Die Tochter verbannt den kranken Pa Cooper auf die Couch und sieht den Besuch eines Freundes gar nicht gern. Die Kinder sind nicht einmal schlechte Menschen. Der Film macht kein Geheimnis daraus, dass Ma Cooper auch nervt. Er ist dennoch auf ihrer Seite. In einem Gespräch wirft die Enkelin der Großmutter vor, sie mache sich, weil sie hofft, dass ihr Mann wieder Arbeit findet, Illusionen. Die Fakten sähen anders aus. „Die Fakten“, sagt Ma Cooper, „sind eine schöne Sache, wenn man siebzehn ist. Lass mir die Illusionen. Mit siebzig sind sie fast alles, was bleibt.“ Was bitterer klingt, als der Film ist. Als Komödienspezialist wurde Leo McCarey bekannt, bei Hal Roach brachte er Laurel und Hardy zusammen, in den frühen Dreißigern drehte er den – von ihm selbst wenig geschätzten – Klassiker „Die Marx Brothers im Krieg“. Er war und blieb in Wahrheit aber immer ein katholischer Humanist mit Sinn für Humor, ein Virtuose der gemischten Gefühle, ein Regisseur, für den das Sanfte, das Traurige, das Komische und das Böse einander keineswegs ausschließen. Jemand auch, der, weil er ans Verzeihen glaubt, zwischenmenschliche Wahrheiten, die oft genug bitter sind, ganz unversöhnlerisch zeigen kann.

Ein mutmaßlich letztes Mal führt der Film sein Paar noch zusammen. Wenige Stunden haben sie in New York. Es ergibt sich, dass sie just in dem Hotel landen, in dem sie fünfzig Jahre zuvor ihre Flitterwochen verbrachten. Für gewöhnlich ist McCarey ein Regisseur, der auf alle inszenatorischen Angebereien derart souverän verzichtet, dass man nicht einmal diesen Verzicht recht bemerkt. Hier aber lässt er die Kamera den beiden folgen – in einem Schwenk die Treppe hinauf, als gingen sie in den Himmel. (Es wird ein sehr temporärer Aufenthalt.) Kurz darauf sieht man die Gesichter der beiden sich zum Kuss nähern. Im letzten Moment blickt Ma Cooper sehr direkt in die Kamera, lächelt halb verschmitzt, halb verschämt und küsst ihren Ehemann diesmal nicht.

„Dieser Film bringt Steine zum Weinen“, hat Orson Welles gesagt, und auch Jean Renoir, ein Bruder Leo McCareys im Geiste, hat ihn außerordentlich geliebt. Dass es ihn bisher weder auf Video noch auf DVD gab, ist vielleicht nicht überraschend – er war ein Flop, seine Protagonisten sind siebzig und ein Happy End gibt es nicht –, aber eine Schande. Umso erfreulicher, dass man „Kein Platz für Eltern“ unter dem Titel „Place aux jeunes“ nun immerhin aus Frankreich bestellen kann. EKKEHARD KNÖRER

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