Sound, Pillen etc.
: Liebesentzug

Die Stadt hat ihren eigenen Elektro-Sound. In Hannes Stöhrs Film „Berlin Calling“ gibt es schöne Passagen, in denen DJ Ickarus alias Paul Kalkbrenner mit zurückgelehntem Kopf und verschlossenem Sonnenbrillen-Blick in der S-Bahn sitzt und wie in Trance vom Qietschen ihres Sounds getragen wird. Einmal nimmt er charakteristische Abfahr-Töne auf und legt sie später auf dem Computer als melodiöses Signal über eines seiner House-Stücke.

Ickarus ist eine Club-Größe. Mit Freundin und Managerin Mathilde (Rita Lengyel) jettet er von Auftritt zu Auftritt, hängt im Flughafen-Wartebereich apathisch ab. Auch bei Tage wirken die Sphären des Films in Andreas Doubs farbengesättigten transparenten Bildern wie eine coole Parallelwelt, die so real ist, wie man sie mit Stöpseln im Ohr wahrnimmt. Aber der Energiefluss, der von dem mageren, dauernervösen, abdriftenden Protagonisten ausgeht, ist nur die halbe Geschichte.

„Berlin Calling“ greift zwar Details aus Kalkbrenners Leben auf, z. B. dessen Schulabbruch, sein musikalisches Elternhaus und die breit berlinernde Ost-Identität, aber seine Biografie will der Film nicht sein, vielmehr die Innenansicht der Clubszene, in der einer wie Ickarus die Kontrolle verliert. „Böse Pillen“ und was er sich sonst noch einverleibt, sind ein Problem, Liebesentzug z. B. durch die schnöde Produzentin (Megan Gay), die sein neues Album aufschiebt, ein anderes. Auch die Ablehnung durch Ickarus’ Vater, einen Pfarrer, der floskelhaft die Öko-Apokalypse predigt, kommt wieder hoch.

Mathilde ist von den Nebenwirkungen der Drogen auf ihren Freund genervt und kehrt zu ihrer Exliebsten (Araba Walton) zurück. Die ist zwar zu einem flotten Dreier bereit, macht dem abstürzenden DJ sonst jedoch die Rückkehr zu Mathilde schwer. Überhaupt die Frauen: Bei Dr. Petra Paul (Corinna Harfouch), einer Neurologin, wird er eingeliefert. Sie schlägt ihm eine Art Urlaub vom Drogen-Ich vor, konfrontiert ihn mit sich selbst und wird wegen ihrer notorischen Unangreifbarkeit und ihren Ruhigstellungspillen zu einer echten Anfechtung. Ickarus bricht zu seinem Dealer aus, hat Sex mit einem Groupie, provoziert die Mitpatienten zu einer hektischen Party, zerlegt das Büro der Produzentin. Am Ende haben sich alle wieder lieb, kann Ickarus auch mal auf Drogen verzichten.

Hat Dr. Paul den Künstler für eine Studie über die Folgen des Drogen-Mischkonsums festgehalten? Warum findet die Produzentin das neue Ickarus-Album plötzlich ganz toll? Wie wäre es gewesen, wenn die bloß angerissenen Geschichten der Nebenfiguren originell zu Ende erzählt worden wären? Mehr als guter Sound wäre drin gewesen. Und nach „Berlin is in Germany“, „One day in Europe“ und „Berlin Calling“ hätte es auch ein weniger anbiedernder Filmtitel getan.

CLAUDIA LENSSEN

„Berlin Calling“. Regie: Hannes Stöhr. Darsteller: Araba Walton, Corinna Harfouch, Megan Gay u. a., Drama, Deutschland 2008, 109 Min.