Porträt des Dramatikers Wajdi Mouawad: Der unbekannte Bruder

Nachrichten aus Kriegsgebieten und das Drama der Familie: Sie kommen zusammen im Theater von Wajdi Mouawad. Der ist in Kanada, Frankreich und Deutschland sehr gefragt.

Immer neue Geschichten von Krieg und Gewalt im Südlibanon: nach einer Explosion im September 2008. Bild: dpa

Als Wajdi Mouawads Mutter in Kanada beerdigt wurde, war es Winter und es schneite. Neben dem Friedhof verlief eine mehrspurige Autobahn. Der damals 20-Jährige fragte sich: Was machen wir hier? Was macht diese Frau hier, die fast ihr ganzes Leben im Libanon am Meer gewohnt hat? "Es war der absolute Nullpunkt, nichts passte mehr zusammen", erinnert sich Mouawad heute. Dieser Tiefpunkt zwang ihn, sich endlich mit der Geschichte seiner Familie auseinanderzusetzen, die 1978 aus dem Libanon via Paris nach Québec geflüchtet war. Bis dahin hatte der heranwachsende Mouawad geglaubt, sein Leben im kanadischen Exil habe nichts mit der Vergangenheit zu tun und sein tägliches Leben hänge in keiner Weise mit dem zusammen, was in der Welt passiert. "Das war natürlich ein großer Irrtum."

Wajdi Mouawad, 1968 im Südlibanon geboren, arbeitet heute in Kanada und in Frankreich als Regisseur, Dramatiker und künstlerischer Leiter. Nach vielen Jahren als Theaterleiter in Québec übernahm er vor einem Jahr das Théâtre Français in Ottawa. Er ist designierter "artiste associé" des Festival dAvignon 2009, aber mittlerweile auch in Deutschland immer präsenter. Seit Oktober läuft die deutschsprachige Erstaufführung seines Stücks "Der Sonne und dem Tod sieht man nicht ins Auge" an der Berliner Schaubühne. Sein Erfolgsstück "Verbrennungen" ist derzeit auf einem richtigen Zug über die deutschen Bühnen. Zählt man das nächste Jahr dazu, wird es bald an zwei Dutzend Bühnen inszeniert sein.

Mit "Verbrennungen" hat Mouawad das Bedürfnis der Theater getroffen, abstrakte Nachrichten aus den Krisen- und Kriegsgebieten verwandelt und dennoch identifizierbar in großer Dramenform auf die Bühne zu bringen. Das Wort Libanon fällt im Text nie, dennoch verortet man die Geschichte automatisch im Nahen Osten und erkennt die in hohem Maße intoleranten Gesellschaftsstrukturen wieder. Das Stück ist eine Familien- und Kriegsgeschichte voll brutaler Epik, in die ein ödipaler Inzest eingeschrieben ist.

Aber es ist auch eine Geschichte von Einwanderern der zweiten Generation, die von ihrer Vergangenheit eingeholt werden: Ein Zwillingspaar erhält bei der Testamentsvollstreckung zwei Briefe der verstorbenen Mutter. Einen, den sie ihrem Bruder übergeben sollen, von dessen Existenz sie bislang nichts wussten, einen an den totgeglaubten Vater. In überbordenden Szenen erzählt Mouawad von den Reise der Geschwister in ein kriegserschüttertes Land. Dort werden sie den verlorenen Bruder finden und mit ihm den eigenen Vater: Er stieg im Bürgerkrieg zum Folterer auf.

Einerseits ist die wahnwitzige Geschichte reine Fiktion, andererseits hat Mouawad sie aus vielen realen Bruchstücken zusammengesetzt. Die Figur der Mutter Nawal vereine etwa Eigenschaften und Erlebnisse verschiedener realer Vorbilder. Ein Bus, der hochgeht, ist eine Szene, die Mouawad in der Kindheit erlebt hat. Aus Berichten ehemaliger KZ-Insassen stammt eine Szene der Mutter, die entscheiden muss, welcher Sohn sterben, welcher überleben darf.

Gegen das zeitweilige Pathos des Stücks kann man Vorbehalte haben. Die kennt auch Thomas Maagh vom Verlag der Autoren, der das Stück für den deutschen Markt mit entdeckte und ins Programm nahm, "aber die Geschichte hat eine Kraft, die sich durchsetzt, und man spürt, dass sie beglaubigt ist".

Dass Mouawad das Fiktionale in die Realität verankert, um der Realität mehr Tiefe zu geben, hat seinen Ursprung auch in seinen ersten künstlerischen Erweckungserlebnissen. Als Heranwachsender kamen ihm in der Bildenden Kunst und vor allem in den Gemälden von Paul Cézanne die Dinge, Äpfel etwa, viel realer vor als die wirklichen Äpfel. Weil das Theater die direkteste Kunstform sei, bewarb er sich dann in Montréal an der Schauspielschule. "Ich glaube nicht an einfache Wahrheiten", sagt Mouawad, "darin finde ich mich nicht wieder." Deswegen würde er sich auch nie als Kanadier mit libanesischen Wurzeln oder als Libanese, der für westliche Werte eintritt, bezeichnen. Mit politischen oder ideologischen Zielen will er seine Theaterarbeit nicht belasten. "Ich habe den Krieg nicht auf historische, sondern auf persönliche Art und Weise erlebt."

Als Kind war es für ihn normal, dass man sich ein bisschen Taschengeld damit verdiente, den im Dorf vorbeiziehenden Milizen die Waffen zu reinigen. Er war knapp zehn Jahre, als die Eltern, Angehörige der christlichen Minderheit, nach Paris flüchteten, aus geplanten drei Monaten wurden fünf Jahre. Nach Ablauf der französischen Aufenthaltsgenehmigung zog die Familie weiter nach Québec. "Das war der viel schwierigere Schritt, alles, was in Paris gewonnen war, Freunde, Sport, die Schule, gab es in Kanada nicht mehr."

Die Eltern waren beschäftigt, das Leben innerhalb der neuen Konventionen zu organisieren. Eine Zeit, in der Mouawad niemals der Gedanke gekommen wäre, über den Krieg zu sprechen. Erst mit Anfang zwanzig sei ihm klar geworden, dass er kein Arabisch mehr spreche, vom Libanon keine Ahnung habe und dass auch die Eltern nach dem jahrelangen schmerzhaften Schweigen nicht mehr wussten, was ihnen eigentlich zugestoßen war. Auf das schlechte Gewissen, in Kanada unversehrt zu leben, während Cousins im Libanon gestorben sind, folgt spät die Erkenntnis, wie sehr einen der Krieg auch im Exil beschädigt hat, ohne dass man sich dessen bewusst war.

In seinem Stück "Seuls" packt Mouawad, der als Autor normalerweise immer einen Schritt vom Persönlichen zurücktritt, seine Lebensthemen offen aus und spielt dieses Selbstbildnis konsequenterweise auf der Bühne auch selbst. Der großartige Soloabend entstand in diesem Sommer beim Festival dAvignon und war Anfang November an der Berliner Schaubühne zu Gast. Mouawad spielt darin einen Soziologiestudenten, der mit seiner Doktorarbeit über die Identitätsfrage des kanadischen Regisseurs Robert Lepage nicht weiterkommt. Er sitzt zwischen Umzugskartons, die Freundin hat ihn verlassen, als Kontakt zur Außenwelt bleibt nur das Telefon, er streitet sich mit seinem Vater im Krankenbett. Und am Ende übermalt er in einem rauschhaften Action-Painting ein Gemälde der Rückkehr des verlorenen Sohnes mit seinem eigenen Porträt. Eine unerbittliche kulturelle und künstlerische Identitätssuche spricht aus dem Abend und auch eine wortlose Einsamkeit, wenn man sich keiner Außenwelt verständlich machen kann.

Dass Mouawad bei Themen und Motiven, die ihn interessieren, einen großen erzählerischen Bogen herzustellen schafft, zeigt sich auch in "Der Sonne und dem Tod kann man nicht ins Auge sehen". Tief in die antike Tragödienwelt hat er sich dafür begeben und verschiedene Stoffe zusammengeführt. Die Figuren des Mythos lässt Mouawad das Schicksal von Theben erzählen. Im kargen Küchen- und Wohnzimmerambiente legt Regisseur Dominique Pitoiset an der Berliner Schaubühne ganz deren verletzte Gefühle frei.

Da wird Kadmos zu einem Bruder, der um seine entführte Schwester Europa bangt. Die eifersüchtige Hippodameia stiftet zum Mord an Chrysippos an, weil er ihren Mann an seine Exfrau erinnert. Pelops verflucht zitternd den, der seinen Sohn missbraucht hat. Und es zeigt sich auch hier, dass weniger der Krieg der Schlüssel zu Mouawads Stücken ist, sondern dessen verheerende Folgen auf menschliche und familiäre Beziehungen.

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