Violetta unter den Puppen

Kein schöner Gedanke, die gefühlte Liebe: Hans Neuenfels nimmt in der Komischen Oper „La Traviata“ auseinander. Übrig bleibt ein Lehrstück über das Genie von Giuseppe Verdi

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

Manchmal ist es die möglichst genaue Lektüre, Wort für Wort und Takt für Takt, die ein Werk in die größtmögliche Ferne rückt. Vielleicht ist das sogar immer so, in der Komischen Oper jedenfalls lässt sich etwa drei Stunden lang dieser dialektische Mechanismus studieren. Interessant ist das schon, aber wohl nicht ganz das, was man bei einem so bekannten Stück wie der „Traviata“ von Giuseppe Verdi an einem großem Opernabend erwarten mag. Nein, es rührt einen nicht zu Tränen und reißt nicht zu Begeisterungsstürmen hin, was Hans Neuenfels und der neue Chefdirigent Carl St. Clair da angerichtet haben. Aber warum sollte es das?

Eine „Traviata“ ist zu sehen und auch zu hören, die nichts mit der gewöhnlich inszenierten, rührseligen Geschichte um das gefallene Mädchen unter bösen Männern zu tun hat, die bei allem nie vergessen, ihre unsterblichen Arien zu singen. Verdis Meisterschaft im Erfinden von Melodien ist in der Tat verblüffend, sein Genie jedoch liegt in etwas ganz anderem. Er hat mit diesen Stücken, die heute zu den ewigen Schlagern der Oper gehören, einer todkranken Hure den musikalischen Raum gegeben, in dem sie lebt und der ihr Orientierung gibt.

Der triviale Rotlichtsound

Flotte Tänze, zackige Männerchöre und Liebesschwüre tönen ständig in ihrem Kopf herum, nichts ist von tieferer Bedeutung, es ist nur das Echo einer amüsiersüchtigen Gesellschaft, in der sie sich sehr wohl zu behaupten weiß.

Carl St. Clair scheut sich deshalb keineswegs davor, auch die Trivialität dieses Rotlicht-Sounds herauszustellen, und lässt das Orchester gelegentlich so hemmungslos schrammeln, dass man sich fragt, ob Verdi das wirklich ernst gemeint haben kann? Tatsächlich wird eine ganze Szene, in der sich die Hauptfiguren kennenlernen, nicht aus dem Orchestergraben, sondern von einer Lautsprecherbox begleitet, die von der Bühnendecke hängt.

Ein netter Seitenhieb auf die akustischen Probleme der Staatsoper, aber auch mehr: Ernst gemeint hat Verdi seine Trivialitäten sehr wohl, aber eben nicht, damit wir gefühlsdusslig mitschunkeln. Denn manchmal klingt alles ganz anders, immer dann, wenn die Hure Violetta über sich selbst nachdenkt: Nichts zum kollektiven Mitsingen, ganz und gar individueller Gesang, mit sparsamen, subtilen Akzenten unterstützt, ist dann zu hören. Aber auch dann ließ sich Verdi nie dazu herab, in der Gefühlswelt seiner Figur zu baden. Er illustriert nichts zum Einfühlen, er lässt sprechen, nicht psychologisch, sondern musikalisch, indem er den Kontrast zwischen öffentlicher Rolle und Person artikuliert.

Kongenial in dieser Hinsicht reduziert auch Neuenfels das Drama ganz auf die Hauptperson dieser Frau. Sie weiß, dass sie nicht mehr lange zu leben hat, und nimmt sich, was sie haben kann – darunter auch das, was sich eine Hure nicht leisten darf: Sie verliebt sich. Sinéad Mulhern singt das Geständnis, das diese Frau sich selber machen muss, ganz wundervoll unsentimental, nüchtern, sogar ein wenig hart, was allerdings auch an ihren Schwierigkeiten liegt, ihre Stimme in den Höhenlagen zu beherrschen.

Das stört aber kaum, weil der Gedanke einer wirklich gefühlten Liebe in diesem Fall kein schöner Gedanke ist. Er ist nur eine Tatsache, so wie der Mann, den es getroffen hat, auch nur eine Tatsache ist. Timothy Richards gibt sich mit seinem wunderbar klaren, gradlinigen Tenor gar keine Mühe, mehr daraus zu machen. Die beiden ziehen aufs Land ins Liebesglück, aber als der Vater Alfredos einschreitet, ist alles schon wieder vorbei. Nur die herrliche Stimme des Baritons Aris Agiris in dieser Rolle ist eine echte Entdeckung.

Dass der schlimme Vater auch noch einen Bockfuß haben muss, ist vielleicht etwas zu viel des Guten, aber Neuenfels möchte nun mal alles Innere nach außen kehren. Christof Hetzer, sein Bühnenbildner, und Elina Schnizler, die Kostümbildnerin unterstützen ihn nach Kräften: Kein Bilderbuch mit Pariser Salon, sondern nur ein schwarzes, spiegelglattes Parkett und Stahlwände, die sich für passende Aus- und Einblicke hin und her schieben lassen. Puppen bevölkern diesen Einheitsraum, mal als Anzugsträger identifizierbar als mögliche Kunden der Violetta, mal ganz abstrakt als geometrisches Kollektiv, das an Schlemmers Bauhaus-Avantgarde erinnert.

Nur Violetta darf, mal im Hemd, mal in Ballrobe oder im Nuttendress, ein Mensch sein. Sie ist es, die handelt, selbst dann noch, wenn man meint, sie als Opfer bedauern zu müssen. Aber eben das verhindert Neuenfels – um den Preis einer gewissen Kälte, in der dieses Stück zu erstarren droht, das man als ganz besonders leidenschaftlich in Erinnerung hatte. Aber die Erinnerung kann täuschen. Selbst Violettas Tod ist nicht wirklich traurig. Sie hat von Anfang an damit gerechnet. Alfredo kommt noch einmal, es war ein Traum, den sie sich geleistet hat, nun möchte sie nur, dass die Puppen um sie herum sich daran erinnern, mehr nicht …

Der Vorhang fällt über eine bemerkenswert mutige Frau, die ja ein reales Vorbild in der damaligen Pariser Gesellschaft hatte. Mehr noch aber gibt die Lehrstunde über Verdi zu denken, die besser als manch vordergründig glanzvollere Aufführung in Erinnerung ruft, warum er einer der größten Musiker aller Zeiten war.

Nächste Aufführungen in der Komischen Oper: 26. + 29. November, 5. + 16. + 20. + 29. Dezember