Eine Großmutter in Grosny

In Alexander Sokurows Film „Alexandra“ fällt kein einziger Schuss und niemand wird getötet. Der Krieg ist trotzdem allgegenwärtig, wenn eine alte Frau ihren Enkel in den russischen Militärstützpunkten von Tschetschenien sucht

Ein Film über den Krieg, in dem keine einzige Waffe abgefeuert und niemand getötet wird. Ein Film über eine alte Frau und ihren einzigen Enkelsohn. Ein Film über Gesichter und Blicke. Und über die Müdigkeit. Die Müdigkeit des Staubes und der Steine. „Alexandra“ von Alexander Sokurow ist keines dieser empört flammenden Anti-Kriegs-Bekenntnisse, die ihrer Botschaft so wenig vertrauen, dass sie sie meterhoch mit Blut auf die Leinwand schreiben müssen, damit man auch noch in der hintersten Zuschauerreihe das Ansinnen des Regisseurs begreift. Es ist ein leiser Film, in dem die Stille zuweilen so unerträglich werden kann wie die Schreie der Opfer, die längst vergangen sind.

Wenn der Film beginnt, sehen wir die Titelfigur (Galina Wischnewskaja) einen Zug besteigen. Sie ist eine alte, aber ungebrochene Frau, der es nichts ausmacht, sich auf eine der staubigen Holzbänke zu setzen. Viel Komfort bietet ein Zugabteil des russischen Militärs nicht, aber das kann sie nicht von ihrer Reise abhalten. Einige Stationen und verschiedene Armeefahrzeuge später kommt sie an ihr Ziel, einen Stützpunkt des russischen Militärs in Tschetschenien, nahe Grosny. Ihr Enkel Denis ist dort. Nein, genauer: Er lebt dort. Das Soldatische ist alles, was er kann und was er kennt.

Was sie in diesem Lager will, unter den Soldaten, die kaum zwanzig Jahre alt sind, können wir nur erraten. Sie will ihren Enkel sehen. Aber falls sie die beschwerliche Reise angetreten hat, um ihn zu überreden, dieses Leben hinter sich zu lassen, dann hat sie ihr Vorhaben rasch aufgegeben. Sie schaut sich um. Sie beobachtet. Sie sagt, sie habe in ihrem Leben zu viel vom Krieg gesehen und blickt dennoch auf das Militär wie auf einen fernen Planeten.

Sokurow zeichnet das Soldatenleben als Abfolgen des Nichtstuns. Der Drill im Lager beschränkt sich auf das Nötigste: Junge Männer putzen ihre Waffen, stehen Wache. Beinahe zärtlich tastet die Kamera immer wieder die Gesichter der Soldaten ab, bringt ihre Unsicherheit, ihr Selbstbewusstsein zum Vorschein. Wenn Worte gewechselt werden, wird meist wenig gesagt.

Obwohl keine unmittelbare Gefahr zu herrschen scheint, stecken das Gefühl einer Bedrohung in jeder Szene und eine stets präsente, subkutane Unruhe. „Es gibt keine Poesie und keine Schönheit im Krieg“, sagte Sokurow in einem Interview. „Er sollte niemals poetisch gefilmt werden. Sein Schrecken und seine Erniedrigungen können nicht ausgedrückt werden. Um den Krieg zu verstehen, muss man wenigstens einmal unter seinen wirklichen Bedingungen gelebt haben.“ Gefilmt wurde vor Ort, in einem echten Militärstützpunkt, und jede Geste, jede Miene der Soldaten lässt das Reale dieser Situation spürbar werden. Aber Sokurow geht es nicht um Aktualitäten. Der Krieg in „Alexandra“ ist so konkret wie entrückt in einer Art hypnotischen Realismus, wie man ihn vom frühen Lars von Trier kennt, oder aus den Filmen Andrej Tarkowskis.

Was konkret erscheint, wird aufgelöst. In ein Netz von Blicken: Blicke durch Fenster in Zelte, Blicke quer über den Marktplatz auf die andere Seite, wo die jugendlichen Tschetschenen stehen, die ihren Zorn kaum unterdrücken können, heimliche Blicke durch einen Türspalt, Blicke, die denjenigen folgen, die sich entfernen. In eine Tonspur, die ein dichtes Geflecht aus orchestraler Musik, nostalgischem Liedgut, Stimmen und kaum hörbarem Geflüster wie eine zweite Haut über dieses Labyrinth aus Zeltschnüren, Holzverschlägen und abgenutztem Militärmaterial legt. In „Alexandra“ ist der Krieg kein Ereignis, sondern ein Zustand. Die Beschreibung eines Ortes, an dem sich der Krieg schon so lange niedergelassen hat, dass er überall ist, ohne irgendwo greifbar zu werden. DIETMAR KAMMERER

„Alexandra“, Regie: Alexander Sokurow. Mit Galina Wischnewskaja, Vasily Shevtsov u. a., Russland/Frankreich 2007, 95 Min., im Kino Krokodil