Seevögel in der Stadt

Möwen

Blaue Luft und Kälte schneidend, Straßen voll mit Eis und Schnee, kein Stück Haut mehr ohne Kleider, Krächzen oben, ’ne Mö-we! Ein laut kreisender Schwarm Laridae, Möwen, in Berlins Mitte erweckt mich aus einem morgendlich-müden Gang. Die Seevögel haben sich ein Fleckchen auf dem Dach des Panzerkreuzers Volksbühne erobert, so wie an manchen Abenden das Deutsche Theater drinnen, auf der großen Bühne, mit Jürgen Goschs „Möwe“-Inszenierung sein Fleckchen zum Gastspiel findet. „Ich bin eine Möwe, nein nicht, ich bin Schauspielerin“, fleht dann die zarte Kathleen Morgeneyer als Nina textsicher und auch treffend ins Publikum. Besser ist es, wird das Tier doch vom traurigen Charakter Konstantin geschossen, bevor er sich, vielleicht sogar deswegen, selbst richtet. Oben bemerkt das Gefieder davon in sicherer Unkenntnis zum Glück nichts. Wie schade wär’s, es würde sich davonmachen. So bleibt, schließt man die Augen, eine Anmutung von winterlicher Sommerfrische in der Nebenstraße des Rosa-Luxemburg-Platzes.

In der Volksbühnenkantine wird derweil, es ist nun tatsächlich Erkältungszeit, von einer freundlichen Bedienung heißer, klebriger Sanddornsaft im Glas ausgeschenkt. An einem der hinteren Tische sitzt Frank Castorf in einer Besprechung und formt seine Zunge fast unbemerkt zu einem Frühlingsröllchen. Vielleicht ein Vorgriff auf den März. Nur noch wenige Wochen sind es, das Große Haus wird saniert, der Betrieb deswegen umgestellt und „Die Möwe“ muss, samt DT-Entourage, in ein anderes Quartier ausweichen. Ob die weiß-grau-fedrigen Gäste von ganz oben folgen, ist nicht sicher. Bauarbeiten, gewiss, sind Quellen des Lärms. Aber leise war es im Haus schließlich noch nie.

NIELS MÜNZBERG