Untergeschoben

„Der fremde Sohn“ von Clint Eastwood basiert auf der wahren Geschichte eines Wechselbalgs

Manchmal kommt es uns so vor, als würden wir die uns Nächsten gar nicht mehr kennen! Mit diesem elementaren Gefühl der Entfremdung spielt Clint Eastwood in seinem neuen Film, dessen Originaltitel „Changeling“ sich am treffendsten in „Wechselbalg“ übersetzten lässt, und so auf die mystischen Urtiefen der Geschichte hinweist. Dabei basiert sie auf einer wahren Begebenheit, die 1928 in Los Angeles passierte, und auf die der Drehbuchautor J. Michael Straczynski zufällig in den kalifornischen Polizeiakten jener Zeit stieß.

Die allein erziehende Mutter Christine Collins kam damals eines Abends von ihrer Arbeit als Telefonistin in ihr leeres Heim zurück. Ihr 9-jähriger Sohn Walter war spurlos verschwunden, und die Polizei suchte monatelang vergebens nach ihm. Da die Presse den gerade in einen Korruptionsskandal verstrickten Ordnungskräften böse zusetzte, inszenierte das Los Angeles Police Department schließlich, nachdem ein Junge in Illinois gefunden wurde, auf dem Bahnhof von Los Angeles eine große Wiedervereinigung von Mutter und Kind, obwohl Christine steif und fest behauptete, dieser Junge sei nicht ihr Sohn. Daraufhin versuchten die Ordnungsmächte mit aller Macht ihren Fehler zu kaschieren, indem sie die Mutter zuerst als unglaubwürdig hinstellten, dann für geistig verwirrt erklären, und schließlich sogar in eine psychiatrische Klinik einweisen ließen, wo ihr eine Behandlung mit Elektroschocks drohte. Erst durch die Pressekampagne eines Radiopredigers wurde schließlich der öffentliche Druck so groß, dass die Frau wieder freigelassen wurde und von der Polizei unterschlagene Untersuchungsergebnisse auftauchten, die letztlich die (allerdings alles andere als glückliche) Lösung des Rätsels lieferten.

Im Zentrum des Film steht die Mutter, deren Angst, Irritation, Schrecken und schließlich dann Wut Angelina Jolie eindrucksvoll ausdrücken kann. Diese Wirkung wird natürlich durch das Image des Hollywoodstars verstärkt, die zurzeit wohl die prominenteste Mutter der Welt ist. Ein geschickter Regisseur nutzt solch ein mediales Schillern. Er muss dabei nur aufpassen, dass es nicht den Film selbst überstrahlt und der so zu einem Starvehikel degradiert wird. Vielleicht ist es die größte Leistung von Clint Eastwood, dass dies hier nicht einmal in Ansätzen droht. Er hat Frau Jolie dazu gebracht, die Rolle so uneitel und intensiv zu verkörpern, dass durch sie nie die Geschichte in den Hintergrund gedrängt wird, sondern im Gegenteil viel intensiver wirkt, weil wir fast immer die Geschehnisse mit den Augen dieser starken Frau sehen, die nie ihre Hoffnung und Würde verliert.

Und Eastwood hat mit einem riesigen Aufwand an Kulisse, Requisite und Kostümen ein Los Angeles der späten 20er Jahre auferstehen lassen, das ganz beiläufig und selbstverständlich präsentiert wird. In diesem Sinne kann man „Der fremde Sohn“ durchaus mit Polanskis Klassiker „Chinatown“ vergleichen. In zwei Dritteln des Films erreicht Eastwood sogar eine ähnliche erzählerische Spannung, aber der dramaturgische Bogen ist im Grunde schon nach der Freilassung der Heldin aus der Psychiatrie und der Entlarvung des untergeschobenen Sohnes vollendet. Doch dann muss auch noch erzählt werden, was aus dem richtigen Sohn geworden ist, und dies ist eine fast ebenso packende Geschichte, die im Grunde genug Stoff für einen eigenen Film liefert. Aber durch diesen Bruch sackt der 140 Minuten lange Film am Ende ein wenig durch. Der 78-jährige Eastwood ist übrigens so produktiv, dass in den USA inzwischen schon sein nächster Film „Gran Torina“ angelaufen ist. WILFRIED HIPPEN