Tarzan gegen Stalin

Der Terror und das Kino: Auf der Freiburger Tagung „Geheimnis und Gewalt“ verfolgten Historiker das Verhältnis von Stalinismus und Moderne

VON STEFAN REINECKE

Der stalinistische Terror ist seit 1989 endgültig Geschichte. Doch nach wie vor erscheint rätselhaft, warum sich der Große Terror in den 30er-Jahren scheinbar grenzenlos ausbreitete. Niemand, auch nicht der Henker selbst, war in der Hochphase des Stalinismus seines Lebens sicher. Ungeklärt ist auch, wie eine derart von Angst und Schrecken durchtränkte Gesellschaft funktionstüchtig bleiben konnte.

Der Bochumer Historiker Stefan Plaggenborg fragte bei der Tagung „Geheimnis und Gewalt“ in Freiburg zu Recht, was Theorien der Moderne taugen, die den Westen, nicht aber die Sowjetunion erklären. Das bolschewistische Fortschrittspathos und die rabiat sozialtechnologische Steuerung der Gesellschaft waren modern. Hat der Stalinismus also, so wie anders auch der Nationalsozialismus, die Moderne auf den Begriff gebracht?

Keineswegs, so der NS-Historiker Ulrich Herbert. Beides sind Gegenentwürfe, die zerstören, was die Moderne charakterisiert: Individualisierung und Pluralisierung. Der Stalinismus, so Herbert, war ein Projekt, das die für die Moderne typische Ausdifferenzierung der Gesellschaft zu verhindern suchte und Recht, Wirtschaft und Wissenschaft an die Kette legte. Was, so fragte ein Historiker, taugt ein Begriff der Moderne, der Robespierre, Adenauer und Stalin in den gleichen Container sperrt? Von dem Versuch, den Stalinismus als Moderne zu lesen, blieb nicht viel übrig.

Eine hübsche Idee war es, nach der Theoriedebatte der Tagung Karl Schlögel auftreten zu lassen. Der Osteuropahistoriker hat kürzlich eine 800 Seiten dicke Studie über „Terror und Traum“ in Moskau 1937 veröffentlicht und bekundete nicht ohne Koketterie, „keine These“ zu haben. Man müsse, so Schlögel, erzählen, was geschah, anstatt sich mit Metadiskursen den Blick zu vernageln. Er lenkte den Blick vor allem auf die irrtierende Vermischung von Massenerschießungen und Aufbruchsstimmung, von entfesseltem Terror und Euphorie in den 30er-Jahren.

Dem stalinistischen Terror wohnt, wie dem Holocaust, ein unerklärlicher Rest inne. Die Auslöschung der Eliten hatte ein irrationales Moment, das in keiner Machtlogik aufgeht. Zum dunklen Faszinosum des Großen Terrors gehören auch die Opfer, die, wie Michael Ryklin zeigte, willig ihre eigene Vernichtung inszenierten und mit den Worten „Lang lebe Stalin“ starben.

Allerdings darf man angesichts des Unverständlichen nicht die konkreten Motive der Gewalt wegblenden. Der Große Terror war, so Schlögel, auch eine Antwort auf die Demokratiehoffnungen, die die Verfassungsdebatte 1936 schürte und die den Bolschewisten als Bedrohungen erschien. Bei der Volkszählung 1937 bekannten zudem 57 Prozent der Sowjetbürger, gläubig zu sein. Das war nach 20 Jahren brutaler Schikane gegen die Kirche für die KPdSU ein niederschmetterndes Ergebnis. Stalins Herrschaft war paradoxerweise total und äußerst fragil.

Ein ähnliches Bild entwarf Gerd Koenen, der die Bolschewisten in einer kundigen tour d’horizont als verzweifelte Kolonisatoren porträtierte, die ein von Krieg und Bürgerkrieg verwüstetes Land zu beherrschen suchten. Sie fürchteten, dass ihre Macht an Moskaus Stadtgrenze endete. Die Eroberten, das bäuerliche Russland, so Koenen, schienen Ende der 20er-Jahre ihren Lebensstil gegen alle Direktiven der bolschewistischen Zentrale wirksam zu verteidigen.

Das stalinistische System musste einen Kampf gegen eine Hydra von Feinden, von Trotzkisten, Renegaten und Saboteuren fantasieren. Denn nur diese imaginären Feinde konnten erklären, warum die bolschewistische Modernisierung immer wieder fehlschlug und im Arbeiterparadies Millionen verhungerten.

Eine kluge Studie über die Mikrophysik der Macht präsentierten die Filmhistoriker Oksana Bulgakova und Dietmar Hochmuth. „Die Fabrik der Gesten“ (zu sehen demnächst auf der Berlinale) analysiert zweieinhalb Stunden lang, wie das sowjetische Kino Körper inszenierte. Das Kino war durchaus eine pädagogische Anstalt, in der zu lernen war, wie Berühungen und Küsse auszusehen und wie sich sittsame Paare zu verhalten hatten. Im Kino sah der Sowjetmensch, wie man geht. Ihm wurde das Spucken auf den Boden abgewöhnt. Bauern lernten, wie man in Straßenbahnen einsteigt und sich im urbanen Raum bewegt.

Im Kino wurde der Körper der Nation modelliert. Erschienen in den Stummfilmen der 20er-Jahre die Körper auffällig sperrig, die Kontakte oft roh und aggressiv, wurden in den 30er-Jahren, während des Großen Terrors, die Gesten distanzierter und distinguierter. Erst in den 60er-Jahren, so Bulgakova, löst sich die Verkrampftheit der sowjetischen Körper im Kino. Es wird nicht mehr marschiert. Die Sowjetmenschen lernen zu schlendern. Ausländische Filme waren in der Sowjetunion erst nach 1945 zu sehen. Als Kriegsbeute brachte man Hollywoodfilme aus den frühen 30er-Jahren mit. Besonders beliebt waren Tarzan-Filme. Ein solcher Körper, geschmeidig, athletisch und nur dazu bestimmt, sich an Lianen durch den Dschungel zu schwingen, war etwas noch nie Gesehenes. Wahrscheinlich, schrieb der Literat Josef Brodsky damals, haben die „Tarzan-Filme mehr zur Entstalinierung beigetragen“ als alle Reden Chruschtschows zusammen.