Achse der Elektronik von Tim C. Boehme
Club im Kopf

Eigentlich war es nur eine Frage der Zeit: Jetzt hat auch das Robert Johnson sein eigenes Label. Der spartanisch gestaltete kleine Club in Offenbach zählt zu den wichtigsten in Deutschland, da lag es nahe, sich dem Club-gründet-Label-Trend mit einer eigenen Reihe anzuschließen. Doch braucht es wirklich eine weitere Serie von DJ-Mixen aus bekannten Clubs? Nimmt man die Auftakt-CD von Chloé, erübrigt sich diese Frage nach ein paar Minuten. Mit der allergrößten Selbstverständlichkeit und Stilsicherheit gleitet die Pariserin, die nicht umsonst zu den gefragtesten DJs überhaupt zählt, in ihrem Liveset von einem großen Moment zum nächsten und zieht einen dabei wie eine Hypnotiseurin durch verschiedene Stufen der Euphorie. Das gelingt ihr mit extrem sparsamen Gesten, sie hat aber auch keine Berührungsängste bei echtem Gesang, wie schon der Anfangstitel „Rock Bottom Riser“ von Gudrun Gut klarstellt. Die Dramaturgie „Live at Robert Johnson Vol. 1“ zeigt überdies, wie gut geratene Mix-CDs einen Kontext schaffen, in dem sich die Tracks zu einem Bogen fügen, der ihnen neue Aspekte abgewinnt. Unter den Fingern von Chloé erzählen die Tracks plötzlich eine Geschichte – nicht nur von einer Nacht im Robert Johnson. Da wäre es gar nicht nötig gewesen, die Reihe noch exklusiv als limitierte Sammeledition zu veröffentlichen, deren geplante vier CDs sich in eine Papphülle im Schallplattenformat drücken lassen. Trotzdem schön.

Chloé „Live at Robert Johnson Vol. 1“ (Live at Robert Johnson)

Pop-Epitaph

Die traurige Nachricht ging rasch durchs Netz: Charles Cooper ist tot. Wie er starb, ist nicht bekannt, vermisst wurde er seit dem 21. Januar. Zusammen mit seinem Freund und Partner Josh Eustis war er Telefon Tel Aviv, und zusammen schmiedeten sie über die Jahre einen Klang, der das nervöse Klicken der Glitch-Ästhetik mit großen Gesten aus dem Indie-Rock anreicherte. Auf ihrem letzten Album sind die rhythmischen Kanten von früher einer melancholischen Synthiepop-Breitwand gewichen. Den immensen Produktionsaufwand merkt man den Songs kaum an, sie bewegen sich gelassen im Stile von Achtziger-Heroen wie Depeche Mode, manche Stücke klingen fast beiläufig. Und obwohl Telefon Tel Aviv so eingängig sind wie nie zuvor, hat „Immolate Yourself“, dessen Erscheinen fast mit dem Tod Coopers zusammenfiel, etwas seltsam Skizzenhaftes und Verwaschenes. Die ohnehin gedrückte Stimmung wird in der zweiten Hälfte noch düsterer und abgründiger, sodass sich der Eindruck verstärkt, hier werde mehr von Rückschau und Verlust erzählt als von Aufbruch und Entdeckung. Und ein Titel wie „You Are the Worst Thing in the World“ sprüht auch nicht gerade vor Optimismus. Man kann nur hoffen, dass die im Albumtitel ausgesprochene Aufforderung zum Selbstopfer nicht programmatisch gemeint ist. Eine solche Gabe kann man schwerlich annehmen, auch im Namen der Kunst.

Telefon Tel Aviv „Immolate Yourself“ (BPitch Control)

Schwingendes Archiv

Es ist keine neue Einsicht, dass das Netz die Musikindustrie bedroht. Darüber kann man verzweifeln, oder man denkt sich Gegenstrategien aus. Das kleine Electronica-Label Expanding Records hat mit „Twenty Systems“ von Benge einen der wohl besten Einfälle zum Thema gehabt: ein eigenes Archiv herausbringen, als CD mit liebevoll gestaltetem Buch dazu. Zwanzig klassische Synthesizer aus zwanzig Jahren werden, chronologisch geordnet, einzeln vorgestellt, angefangen mit einem Moog aus dem Jahr 1968. Was erst einmal nach Demonstrations-CD in Mogelpackung klingt, stellt sich als wunderbar abwechslungsreiche und originelle Konzeptarbeit heraus, die jedem Instrument auf andere Weise gerecht wird. Benges Palette reicht von pulsierenden Frequenzvariationen und elegischen Miniaturen bis zu abstrakten Experimenten. Die besondere Pointe ist jedoch, dass man nicht nur zu hören bekommt, wie groß die Unterschiede in der Klangfarbe von Instrument zu Instrument sein können, sondern man kann parallel dazu im gebundenen Booklet ausführliche Beschreibungen zu den Besonderheiten der einzelnen Modelle lesen oder sich durch die Farbfotos blättern. Mit Retro-Etüden hat das alles wenig zu tun, dafür umso mehr mit Leidenschaft und Hingabe. Und es gemahnt auf sehr charmante Weise daran, dass unser Gedächtnis ohne visuelle Erinnerungsstücke über kurz oder lang aufgeschmissen sein könnte.

Benge „Twenty Systems“ (Expanding Records)