Hühnerherzen essen

Eine Familie, die den Halt verloren hat: Die Filmpremiere von Ina Weisses „Der Architekt“ mit Josef Bierbichler wird in der Volksbühne zu Recht gefeiert

Trotz rückläufiger Zuschauerzahlen und immer zahlreicher werdender Stimmen, die den schleichenden Niedergang von Frank Castorfs Dramenzertrümmerungsmaschinerie am Rosa-Luxemburg-Platz beschwören: Noch immer ist die Volksbühne ein Ort, an dem man einen großartigen Premierenabend verbringen kann. Zudem hat sie sich in den anderthalb Dekaden unter Castorfs Leitung zu einem höchst ausdifferenzierten selbstreferenziellen System entwickelt – inklusive eigener Musik- und DVD-Produktion. Und da einige Volksbühnen-Schauspieler regelmäßig in Kinofilmen mitspielen, ist es nur folgerichtig, dass die mehrmals im Monat stattfindende Filmbühne immer wieder auch als Plattform für Filmpremieren der Volksbühnen-Community genutzt wird.

So feierte am Mittwoch vor fast ausverkauftem Haus Ina Weisses Regiedebüt „Der Architekt“ mit Josef Bierbichler in der Hauptrolle Premiere. Der Film handelt von einem Architekten, Georg, der nur widerwillig die Beerdigung seiner Mutter in einem kleinen, abgelegenen Bergdorf besucht – bereits ahnend, dass das Ganze kein gutes Ende für ihn nehmen wird. Seine Ehe ist zerrüttet, längst haben sich Georg und Eva (Hilde van Mieghem) auseinandergelebt. Auch die übrigen Familienmitglieder durchleben, jeder für sich, eine Krise: Sohn Jan (Matthias Schweighöfer) trinkt zu viel und hat die Trennung von seiner Freundin zu verkraften, die Geige spielende Tochter (Sandra Hüller) muss sich auf ihre Aufnahmeprüfung am Konservatorium vorbereiten und zweifelt plötzlich an ihrem Talent.

In der schneebedeckten Abgeschiedenheit – man kennt das ja aus Kubricks „The Shining“ oder, aktueller, aus Thomas Imbachs „Lenz“ – drängen die vorher noch halbwegs unterdrückten Konflikte immer heftiger an die Oberfläche. Vor allem die Anwesenheit von Georgs Jugendliebe Hannah, gespielt von Volksbühnen-Ikone Sophie Rois, führt zu massiven Komplikationen. Da ist es kein Wunder, dass alle den doch eigentlich so idyllischen Ort so schnell wie möglich verlassen möchten, doch die Schneemassen machen ihnen einen Strich durch die Rechnung. So nimmt das Unheil seinen Lauf. Am Ende dieses traurig-schönen Films sieht man Georg durch den Schnee stapfen, ein verwundetes Tier, das sich zum Sterben von der Herde entfernt.

In diesem Film ist alles irgendwie mühsam. Nicht nur Beziehungen gehen kaputt, sondern praktisch alles ist dysfunktional: Autos, die nicht mehr fahren wollen, Duschvorhänge, die herunterfallen, Kleidungsstücke, die zerreißen. Ständig reden die Figuren aneinander vorbei, hier wird zumeist nur noch gegeneinander kommuniziert. Trotz aller Tragik gibt es auch zahlreiche lustige Momente, etwa wenn Georg von seiner Tochter dazu angehalten wird, auf der Beerdigung eine Ansprache zu halten, und spontan erzählt, wie seine Mutter ihn als Jungen genötigt habe, Hühnerherzen zu essen. Die Gäste sind irritiert, Georg beendet seinen Monolog mitten im Satz und nimmt wieder Platz, als ob nichts gewesen wäre.

„Der Architekt“ ist ein genau beobachtender Film, dem es gelingt, seine Figuren lebensecht und im selben Moment dramatisch verdichtet erscheinen zu lassen. Dass vieles vorhersehbar ist, fällt nicht so sehr ins Gewicht, da der Film seine Energie weniger aus einer überraschenden Handlung als aus einer Poesie des Augenblicks bezieht. Und aus den durchweg guten bis herausragenden darstellerischen Leistungen – vor allem Sandra Hüller entpuppt sich in einer für sie eher ungewöhnlichen Rolle als Glücksgriff.

Als der Film nach knapp neunzig Minuten vorbei war, bat die Filmemacherin unter heftigem Applaus Crew und Schauspieler auf die Bühne. Einer jedoch fehlte, derjenige, vor dem man sich in diesem Moment am tiefsten verneigen wollte: Josef Bierbichler. ANDREAS RESCH

„Der Architekt“. R: Ina Weisse. Mit Josef Bierbichler, Hilde van Mieghem u. a. Deutschland 2008, 93 min. Seit gestern im Kino