Der Glaube ans Kollektiv

Es tut sich endlich wieder was in der Berliner Jazzszene: Motoren der Entwicklung sind der Verein Jazzwerkstatt Berlin-Brandenburg und das Jazzkollektiv Berlin aus acht jungen Bandleadern

Immer mehr Musiker aus anderen Ländern verstärken zusehends die Berliner Szene

VON TIM CASPAR BOEHME

Seit gut zwei Jahren tut sich was in Berlins Jazzszene. Das liegt vor allem an der unermüdlichen Arbeit des Vereins Jazzwerkstatt Berlin-Brandenburg, Konzertveranstalter und Plattenlabel in einem. Jetzt haben sich acht junge Bandleader zum Jazzkollektiv Berlin zusammengeschlossen, um ihre Kräfte zu bündeln – mit Erfolg.

Ulli Blobel ist einer jener Menschen, denen man Tatendrang und Umtriebigkeit fast ansehen kann. Seine Selbstauskunft „Wenn ich etwas mache, dann mache ich es richtig“ nimmt man dem riesigen Mittfünfziger gern ab. Dass der Begründer der Jazzwerkstatt Berlin-Brandenburg sich jetzt mit Leidenschaft um den Jazz in Berlin kümmert, ist dabei keinesfalls selbstverständlich. „Ich hatte fast zwanzig Jahre mit Jazz nichts zu tun, weil ich mit der Arbeit in meiner Firma eingespannt war“, so Blobel. Seine Firma, den Vertrieb Records in Wuppertal, baute er nach seiner Ausreise aus der DDR im Jahr 1984 auf. Zuvor hatte er seit den frühen Siebzigern gemeinsam mit Peter Metag die Jazzwerkstatt Peitz organisiert und seine brandenburgische Heimatstadt zu einem Aushängeschild der internationalen Free-Jazz-Szene gemacht – bis das Festival verboten wurde.

Nach dem Neuanfang im Westen hatte Blobel erst einmal „keinen Bock“ mehr auf Jazz. Anfragen von Medien lehnte er ab. Doch dann ließ er sich vor einigen Jahren überreden, einen Beitrag für den Band „Freie Töne“ über die Jazzszene der DDR zu schreiben, und sein Interesse war wieder geweckt. Um sich auf den aktuellen Stand zu bringen, kaufte er Alben von jungen Künstlern und traf sich in Berlin mit Musikern wie dem Jazzpianisten Alexander von Schlippenbach. Von denen erfuhr er, wie zerstritten die Szene sei, das ehemalige Musikerkollektiv und renommierte Free-Jazz-Label FMP traf sich nur noch vor Gericht. Und außer den etablierten Jazzclubs und dem Jazzfest hatte es wenig Spannendes gegeben, obwohl es an interessanten jüngeren Musikern nicht mangelte. Initiative war gefragt, um den Jazz in Berlin wieder in Schwung zu bringen.

Blobel überlegte und entschied: „Ich mache es.“ Mit Berliner Musikern gründete er den Verein Jazzwerkstatt, im September 2006 fand das erste Konzert statt. Seitdem gab es rund hundert Konzerte, auf dem zugehörigen Label erschienen mehr als 50 CDs und DVDs. Unterstützt wird Blobel, der regelmäßig zwischen Wuppertal und Berlin pendelt und die Jazzwerkstatt als sein „Hobby“ bezeichnet, fast ausschließlich von seiner Mitarbeiterin Melanie Martin, die sich um die Organisation der Konzerte kümmert. Der Einsatz lohnt allemal: Innerhalb kürzester Zeit hat sich die Jazzwerkstatt zum Motor des Jazz in Berlin entwickelt. Spätestens seit das amerikanische Online-Journal All About Jazz die Jazzwerkstatt zum Label des Jahres 2008 wählte, kann von einer lokalen Veranstaltung nicht mehr die Rede sein.

Auch die Berliner Szene hat sich spürbar internationalisiert. Immer mehr Musiker aus anderen Ländern ziehen mittlerweile in die Hauptstadt. „Die Berliner Jazzszene hat aktuell große Dinge vor“, so Blobel. So könnte sich Berlin in den nächsten Jahren zur europäischen Jazzmetropole entwickeln. Die Jazzwerkstatt bietet den Künstlern ideale Bedingungen, um regelmäßig aufzutreten und die eigene Musik auf CD zu veröffentlichen – dank großzügiger Förderung ist der Verein nicht vom kommerziellen Erfolg abhängig, so dass Blobel sein Label unter rein künstlerischen Gesichtspunkten betreiben kann.

Diese Unabhängigkeit kann man in einer Zeit des allgemeinen Niedergangs der Musikindustrie gar nicht hoch genug schätzen. „Die Jazzwerkstatt gibt einem ein bisschen den Glauben zurück“, so Yohko Mizushima, die sich bei dem vor gut einem Jahr gegründeten Jazzkollektiv um die Pressearbeit kümmert. Unabhängigkeit ist für Jazzmusiker sonst nur schwer zu haben. Schon der Weg auf Festivals bringt zahlreiche Kompromisse mit sich, nicht selten gehören dazu Auftritte mit bekannten Musikern, die nicht unbedingt den eigenen künstlerischen Zielen verbunden sind.

Erfahrungen dieser Art brachten die Saxofonisten Daniel Glatzel, Wanja Slavin und Felix Wahnschaffe sowie Posaunist Gerhard Gschlößl und Pianist Marc Schmolling zur Gründung des Jazzkollektivs. Gschlößl hatte in Italien mit einigen Kollektiven gespielt und seine Freunde von der Notwendigkeit einer gemeinsamen Formation überzeugt, die es so in Deutschland bisher nicht gab. Das Kollektiv ist kein neues Musikprojekt, sondern ein Zusammenschluss von Bandleadern mit dem Ziel, „die einzelnen Projekte kollektiviert auf den Markt zu bringen“, so Schmolling: „Wir wollen mehr Öffentlichkeit schaffen.“

Das gelang gleich beim ersten Versuch im November vergangenen Jahres mit den „Kollektiv Nights“. Die Bandleader waren mit ihren Projekten vertreten, als Gast spielte der Gitarrist Ronny Graupe mit seinem exzellenten Trio Spoom. Graupe ist mittlerweile Mitglied des Kollektivs, ebenso wie der Saxofonist Philipp Gropper, der mit Wanja Slavin das Gropper/Slavin Nonett anführt, und der Posaunist Johannes Lauer. Das zweitägige Festival im RAW-Tempel war ein großer Erfolg, das Motto „Stell dir vor, es gibt Jazz, und jeder geht hin …“ ging locker auf. Im Publikum saßen auch diverse Veranstalter, und so gab es bald Einladungen zum renommierten Moers-Festival und zur Bremer Messe Jazz Ahead, wo sie mit anderen europäischen Kollektiven an einem gemeinsamen Stand internationale Austauschmöglichkeiten erproben können. Unter dem Titel „Zoom Project“ ist gar ein „Kollektiv der Kollektive“ mit dem Ziel eines europäischen Jazzfestivals für 2010 geplant. Im Herbst soll die zweite Ausgabe der Kollektiv Nights folgen, zusätzlich ist eine weitere durchgängige Konzertreihe vorgesehen, sofern es Förderung gibt.

Auf die Musiker des Jazzkollektivs ist Blobel schon seit längerem aufmerksam geworden. Gschlößl ist beim Label Jazzwerkstatt gleich mit mehreren Formationen vertreten, von Marc Schmolling ist dort soeben eine Trio-Aufnahme mit hochintelligenten Improvisationen erschienen. Im Frühling folgt ein neues Album von Wahnschaffes Formation „Das rosa Rauschen“. Auch in den Konzerten der Jazzwerkstatt kann man die Musiker hören, aktuell in der neuen Konzertreihe „Discover US“, die sich der transatlantischen kulturellen Wiederannäherung in der Post-Bush-Ära verschrieben hat. So wirkt sich die Zusammenarbeit auch hier positiv aus, der Jazz in Berlin ist auf einem guten Weg. Mit Blobels Worten: „Wenn das ein Jahr so weitergeht, tanzt hier der Bär.“

Marc Schmolling Trio: „Siebenundsechzigzwei“; Der Moment: „Transzendenz“; Hyperactive Kid: „3“ (alle Jazzwerkstatt), www.jazzwerkstatt.de, www.jazzkollektiv.de; „Discover US“: Konzert mit Gerhard Gschlößl, Elliott Sharp, Marc Ribot und Hermann Keller am 28. 2., Babylon Mitte, 20 Uhr