crime scene
: Muminland ist abgebrannt

„Das ist ja fast wie eine Karte vom Mumintal!“, ruft eine Frau, als sie die kunstvoll gestaltete Karte entdeckt, die der junge Bengt von dem Stück finnischer Schärenwelt, in dem er zu Hause ist, gezeichnet und an die Wand gepinnt hat. Auch ein Moorsee ist darauf verzeichnet und die Mädchenleiche, die auf dessen Grund liegt. Einige Jahre vorher, im Sommer 1968, ist die blonde Eddie, als sie bei einem Streit mit Bengts Bruder Björn ins Wasser fiel, ertrunken. Am Grund des Sees gibt es einen Strudel, der sie sofort hinunterzog. Zumindest glauben alle, dass es so ablief, denn da Björn sich anschließend erhängte, kann er nicht mehr gefragt werden. Das Gewässer ist sehr tief, und die Leiche wurde nie geborgen.

Dergleichen hätte im Mumintal natürlich nie passieren können. Doch der Verdacht liegt nahe, dass die Autorin Monika Fagerholm den beiläufigen Verweis auf die literarische Schöpfung ihrer finnlandschwedischen Landesschwester Tove Jansson nicht unabsichtlich angebracht hat. Auch bei Fagerholm ist Mumintal; nur sind wir auf dessen dunkle Seite geraten. Auch hier streifen die Kinder frei durch die Landschaft. Doch statt in aller Unschuld geheime Höhlen zu entdecken, tragen sie schwer an anderen Geheimnissen; dem Wissen um die Grausamkeiten, die im Zusammenleben der Menschen möglich sind.

Auch bei Fagerholm gibt es eine Muminmutter, hier „Kusinenmutter“ genannt, die für all diese verwirrten Kinder ein offenes Ohr hat. Retten kann sie sie nicht; und alle anderen Erwachsenen agieren egoman und triebgesteuert. Wir schreiben die Siebzigerjahre, vor deren libertinärem Hintergrund Fagerholm eine Geschichte von Schuld, Verantwortung und der Abwesenheit von Unschuld erzählt. Zwei Mädchen stehen in ihrem Zentrum, Freundinnen, von denen die eine, Doris, bei der Kusinenmutter aufwächst, nachdem sie von ihren leiblichen Eltern fast umgebracht worden wäre. Ihre Freundin Sandra, unscheinbare Tochter eines lauten Jetset-Paars, wohnt in einem geschmacklosen Neureichenhaus am Moorsee. Doris und Sandra spielen tagein, tagaus Rollenspiele, die auf dem undurchschaubaren Leben der Erwachsenen basieren. Auf noch kindliche Weise wollen sie das Rätsel um das tote Mädchen im See lösen. Nicht mehr ganz so kindlich, erleben sie miteinander ihr sexuelles Erwachen. Doch der endgültige Verlust der Unschuld tritt erst ein, als die eine entdecken muss, dass die andere ein Geheimnis hütet, das sie nicht mit der Freundin geteilt hat.

Am Ende werden alle Rätsel gelöst sein, was nichts besser macht; denn wir wissen bereits seit Beginn des Romans, dass Doris bis dahin tot sein wird. Die Unbeirrbarkeit, mit der sich dieses Schicksal erfüllt, hat etwas beinahe Erlösendes angesichts des hilflosen Herumruderns, mittels dessen sich das übrige Romanpersonal gerade so über Wasser, das heißt: am Leben hält. Das große Freiheitsversprechen der Siebziger ist eine Luftblase, das Erwachsensein ein Sicheinrichten in der Lüge. Fagerholms feingesponnene, suggestive Prosa, großartig übersetzt von Sigrid Engeler, beschwört eine versunkene Zeit herauf, sprachverliebt und in einer eigenwilligen Chronologie, die, der menschlichen Erinnerung ähnlich, das zu Erzählende scheinbar assoziativ zusammenfügt. Unter der Oberfläche bildet sich derweil ein Erzählstrudel, der einen tief, tief hineinzieht.

Eine dreißig Jahre später spielende Fortsetzung erscheint demnächst auf Schwedisch. KATHARINA GRANZIN

Monika Fagerholm: „Das amerikanische Mädchen“. Aus dem Schwedischen von Sigrid Engeler. Fahrenheit Verlag, München 2008, 540 S., 22,90 Euro