„Mode ist eine Revolution des Selbst“

Chris Dercon, Direktor im Münchner Haus der Kunst, ist bekannt für seine Modeleidenschaft und seine innovativen Ausstellungskonzepte. Diese sind in der Retrospektive „Maison Martin Margiela. The Exhibition“ zu einer Hommage an die Philosophie des visionären belgischen Modemachers verknüpft

CHRIS DERCON

Chris wurde 1958 in Lier, Belgien, geboren und studierte von 1976 bis 1982 in Amsterdam und Leiden Kunstgeschichte, Theaterwissenschaften und Filmtheorie. Es folgten Stationen beim belgischen Rundfunk und Fernsehen sowie beim Hoger Instituut voor Beeldende Kunsten, Brüssel, wo er von 1983 bis 1988 als Dozent die Fachbereiche Video und Kino betreute. 1988 wechselte Dercon als Programmdirektor ans Institute of Contemporary Art P.S. 1 nach New York. 1990 wurde er Direktor des Witte de With, Zentrum für zeitgenössische Kunst, Rotterdam. 1996 realisierte er die Ausstellung Face à l’Histoire (1980–1996) für das Centre Georges Pompidou in Paris. Seit 1996 ist Chris Dercon Direktor am Museum Boijmans Van Beuningen, Rotterdam, wo er nicht nur den Bau eines neuen Museumsflügels realisierte, sondern neben zahlreichen, wichtigen Neuerwerbungen für die Sammlung auch so viel beachtete Ausstellungen wie „Ansichtssachen mit Hans Haacke“ (1996) oder „Hieronymus Bosch“ (2001) möglich machte. Seit 2003 ist Dercon Direktor am Haus der Kunst in München. AH

INTERVIEW ANNABELLE HIRSCH

taz: Herr Dercon, auf Vermittlung seiner Geschäftspartnerin haben Sie den Modemacher Martin Margiela in den Achtzigerjahren persönlich kennen gelernt. Bereits 1997 haben Sie seine erste Ausstellung im Museum Boijmans Van Beuningen in Rotterdam kuratiert. Seit wann interessieren Sie sich für die Schnittstelle von Kunst und Mode?

Chris Dercon: Wissen Sie, das läuft bei uns in Belgien alles automatisch zusammen. Wir sind uns in den Achtzigerjahren in Brüssel über den Weg gelaufen. Jenny Meirens, Margielas Geschäftspartnerin, begeisterte uns damals mit ihrem Laden, der Designer wie Comme des Garçons und Margiela führte. Im Gegensatz zu Paris hat sich die Mode in Brüssel erst im Milieu der bildenden Kunst durchgesetzt. Im Grunde habe ich mich also nur mit der Mode auseinandergesetzt, weil das die anderen auch machten. Dabei war mir allerdings immer bewusst, dass ich nur zwei Möglichkeiten habe: Entweder setze ich mich ganz oberflächlich mit ihr auseinander oder ich sehe nach, was wirklich dahintersteckt. Ich habe dann schnell realisiert, wie schwierig es ist, wirklich über Mode zu sprechen und nachzudenken. Man benötigt dafür ein unglaubliches Know-how.

Besonders wenn es um das Maison Martin Margiela geht?

Bei Margiela ist Mode immer ein Akt von Intelligenz. Deswegen heißt es auch: Haben Sie Margiela verstanden? Das ist natürlich unglaublich arrogant, aber die Aussage ist dabei, dass die Kleidung von Martin einer Form von Grammatik folgt. Man weiß, dass Mode semantisch ist, aber sie ist eben auch grammatikalisch. Deshalb kann man sagen, man muss Martin Margiela verstehen, weil man aus seinen Ensembles Sätze bilden kann.

Die Sprache Margielas wird nun schon 20 Jahre in der Mode gesprochen. Aus diesem Anlass wurde im September 2008 eine große Retrospektive im Mode-Museum in Antwerpen organisiert. Jetzt läuft sie auch in München. Was führte zu dieser Entscheidung?

Als die Vorbereitungen für die Ausstellung in Antwerpen anliefen, war mir klar, dass ich „Maison Martin Margiela. The Exhibition“ auch nach München holen muss. Nur brauchte ich dafür ein Alibi. Mein Alibi ist, dass wir bereits die schönste Modeausstellung der Fünfzigerjahre mit allen Größen wie Christian Dior, Coco Chanel und anderen im Haus der Kunst hatten. Diesen Aspekt der Geschichte des Hauses habe ich zum Anlass genommen. Wussten Sie, dass hier einst sogar Modenschauen veranstaltet wurden?

Nein, das wusste ich nicht.

Während der amerikanischen Besatzung wurde das Haus der Kunst ja als Offizierskasino und als Sportanlage genutzt. Daneben gab es aber eben auch Modenschauen mit den Produkten, die von den Amerikanern hergebracht wurden. München war eben immer schon eine Stadt der „luxure voluptueuse“. Bezeichnend dafür ist natürlich auch, dass Margiela seinen ersten Shop in Deutschland auf der Münchner Maximilianstraße eröffnet.

Diese für das Maison Martin Margiela untypische Standortwahl hat im Ausland für einige Verwunderung gesorgt. Die „New York Times“ berichtete etwa, Martin Margiela sei seit dem Zusammenschluss mit Diesel mit dem erneuerten Marketingkonzept unzufrieden. Außerdem halten sich hartnäckige Gerüchte, Margiela werde das Haus als Chefdesigner verlassen.

Davon weiß ich nichts, aber eines kann ich Ihnen versichern: Martin steht hinter der Arbeit der Maison Martin Margiela! Ich rede nicht von der letzten Show, sondern von der im September. Bei dieser Show – „20 Jahre Martin Margiela“ – habe ich vor Freude geweint. Alle alten Freunde von damals waren da. Für uns kamen durch diese wahnsinnige Retrospektive Erinnerungen an die Umbruchszeit zurück. Heute braucht man uns nicht mehr, aber damals war das alles ganz neu. Ich kann Ihnen nur sagen: Das Defilee im September, das war Martins ganz persönlicher St.-Martins-Tag.

Heute beschäftigen Sie sich in vielen Vorträgen mit der Entwicklung einer „neuen Langsamkeit“ in der bildenden Kunst und in der Mode. Wie passt die Kategorie der Langsamkeit in das schnelllebige System der Mode?

Einer der wichtigen Aspekte in den Arbeiten von Martin Margiela, Comme des Garçons und Yohji Yamamoto ist Tempo. Am Anfang waren die Shows so, dass die Models reinkamen, sich starr wie Mannequins präsentierten und dann wieder rausgingen. In den Siebzigern wurde Speed das Motto der Laufstege. Das Tempo war sehr schnell und die Bewegungen abgehackt. Heute gehen die Models bei den Shows von Margiela, Comme des Garçons und Ann Demeulemeester ganz langsam. Ich finde das interessant, denn das Erotische, das Elegante, das Biopolitische ist mit Qualität verbunden. Und Qualität heißt Langsamkeit.

Ist die Tatsache, dass Mode sich derzeit häufiger im institutionalisierten Museumskontext präsentiert, ein Versuch, dem Tod, der ihr immer im Nacken lauert, zu entgehen und einen Teil der Unvergänglichkeit der Kunst für sich in Anspruch zu nehmen?

Ich würde sagen ja und nein. Die großen Museen haben natürlich gerne Mode in ihrer Designabteilung. Nur werden die besten Modeausstellungen nicht im Metropolitan Museum oder im Centre Pompidou gemacht. Die besten Ausstellungen für Mode machen das Victoria and Albert Museum in London, das Musée des Arts Décoratifs in Paris oder das Fashion Institute in New York. Dortige Ausstellungen setzen sich mit Mode als Handarbeit auseinander, aber auch mit Phänomenen der Widersprüchlichkeit wie Mode und Vergänglichkeit, Mode nicht nur innerhalb des Designs, sondern auch Mode in Verbindung mit anderen Bereichen. Es gibt wirklich sehr viele Aspekte, an denen man arbeiten kann, deshalb denke ich, man muss Mode wahnsinnig ernst nehmen, als Handarbeit und als eine Form von Biopolitik, aber auch als eine Form der permanenten Revolution des Selbst.

Sie kommen immer wieder auf den Begriff der Biopolitik zu sprechen. Tatsächlich formen Margielas Kreationen den Körper um. Die Trompe-l’oeil-Teile oder auch die extremen Schultern machen aus dem Körper eine Art Material, dass unendliche Möglichkeiten der Umformung in sich trägt. Dieser Aspekt erinnert stark an den Künstler Matthew Barney, der den Körper als formlos und deshalb formbar versteht und inszeniert. Ist die Mode mittlerweile in der besseren Position, derartige Diskurse über Körperlichkeit anzuregen, wie die Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken meint?

Das sehe ich ganz genauso. Matthew Barney ist in diesem Zusammenhang auch wegen Björk interessant, da sie sehr stark von Comme des Garçons und Margiela beeinflusst ist. Bei der Umformung des Körpers als Material geht es allerdings um eine Form von Biopolitik, die sich mit dem Ungeformten, nicht aber mit dem Deformierten beschäftigt. Da muss man ganz klar unterscheiden. Das Ungeformte bedeutet eine Weichheit, die man unter Kontrolle bekommen kann, die beweglich ist. Da kommt wieder die Langsamkeit ins Spiel, denn sie passt sehr gut zum Ungeformten. Man findet das auch in der informellen Kunst einer Louise Bourgeois, aber eben auch bei Comme des Garçons oder sogar bei Zaha Hadid wieder.

Mode wurde schon Ende des 19. Jahrhunderts durch Baudelaire und später durch Walter Benjamin als treffendste Darstellung des Zeitgeists angesehen. Inwiefern ist Margiela Ausdruck von Zeitgeist?

Margiela hat uns die Angst genommen. Er hat versucht, eine Gestalt, eine Form für diejenigen zu finden, die sich wirklich für Biopolitik interessieren, und hat es geschafft, Menschen zu vereinen, die sich ernsthaft mit Mode als solcher auseinandersetzen wollen. Seine Kleidung ist nicht nur Hülle für den Körper, sondern auch eine Erweiterung. Es ist die Erweiterung zum Psycho-body, und ich denke, er ist wirklich der Erste, der das in dieser Form präsentiert hat. Das ist vielleicht sogar fast das Wichtigste, und ich glaube, deshalb imponieren mir Menschen, die seine Kleidung tragen, auch besonders. Ich finde zum Beispiel Frauen in Margiela wesentlich interessanter, als wenn sie Mode von Stella McCartney tragen. Aber das ist mein Fetischismus.

Was bedeutet 20 Jahre Maison Martin Margiela für Sie?

20 Jahre Martin Margiela ist nicht nur dem Bild der Mode gewidmet, sondern steht auch für 20 Jahre Werbung, Guerilla-Marketing und Architektur. Barbara Vinken hat es glaube ich am besten ausgedrückt: Margiela macht eine Mode über die Mode und eine Mode vor oder nach der Mode. Das versuchen wir auch in der Ausstellung zu zeigen. Diese Ausstellung, könnte man sagen, ist der letzte Akt von Martin Margiela.