berliner szenen Muße auf zwei Rädern

Victoria und ich

Selbst die Frau mit den Kindern im Bakfiets kommt nach der Ampel schneller in Fahrt, und trotz der Fracht, die sie bewegt, hat sie bald einen ordentlichen Abstand herausgefahren. Wir sind einfach lahm, Victoria und ich.

„Nimm doch Victoria!“, hatte meine Mitbewohnerin gesagt. Bis nach Prenzlauer Berg würde ich es allemal spielend schaffen. Ich will aber weiter, nach Kreuzberg und Neukölln. Das kostet Zeit. Das spart das Konditionstraining im Fitnessstudio.

Victoria lag in der Scheune eines alten Jagdschlosses in Bückeburg unter einer fetten Lage Staub begraben, als meine Mitbewohnerin es entdeckte. Weil sie einen Blick und Faible hat für Originelles und Langlebiges, erklärte sie dem Besitzer, das antike Stück würde ganz wunderbar als Zweitrad taugen. Und so ist es.

Schmunzelnd betrachte ich die windschnittige „Kühlerfigur“, sie thront auf dem Schutzblech, und Victoria macht bei Gebrauch haargenau das Geräusch, das man von alten Drahteseln erwartet. Der Name ist übrigens nicht der Sentimentalität meiner Mitbewohnerin geschuldet, etwa um sich regelmäßig einer reizenden alten Tante zu erinnern; Victoria ist eine Marke und mit geschnörkelten Buchstaben auf dem Rahmen notiert.

Weil wir also durch die Straßen schleichen, Victoria und ich, werden wir von wirklich allen Radfahrern, die in unsere Richtung wollen, überholt. Diese Tatsache relativiert dann allerdings so manche folgende Ampel. Ich habe Gelegenheit und Muße, Rücken zu studieren und Fontänen, die schnittige Räder auswerfen, wenn es regnet, und fiese Jacken mit Dreckspritzern, die in breiten Streifen längs des Rückgrats verlaufen. Selbstverständlich wird einem so eine Sauerei mit Victoria niemals passieren.

GUNDA SCHWANTJE