berliner ökonomie
: Hinterhofhelden

Ein neuer „Neukölln-Report“ von Johannes Groschupf

„Die Meilen der Sonnenallee, der Hermann- und der Karl-Marx-Straße, vielleicht hat Olga sie ja gesehen, nicht aber erlebt oder durchlitten“, klagte der einstige Bezirksbürgermeister von Neukölln, Arnulf Kriedner (CDU), 1988 in der taz die Autorin des „Neukölln-Reports“, Olga O’Groschen, an. Ihr Report war drei Tage hintereinander in der taz erschienen. In ihren Spaziergangsbeschreibungen durch den als „akutes Seuchengebiet“ bezeichneten Kiez jenseits des Hermannplatzes begegnete man dem dunklen Neukölln der in Eckkneipen saufenden „Solkowskis“ und „ekligen Kakerlaken-Grießbrei“ essenden Frauen namens „Pilarski“. Einer Welt, die kein Berliner je freiwillig betrete, so wie auch „kein Neuköllner jemals auf Berliner Gebiet gerät“, hieß es. „In der Nacht knattern die Leichentransporte der Firma Franzkowiak durch die Straßen“, während in den Betten „Tausende von Leuten von verbrannten Pommes frites träumen“.

Arnulf Kriedner bedauerte in seinem „Nachtrag“ die Oberflächlichkeit dieser Reportage. So habe die Autorin etwa die Folterkeller im Rathaus unterschlagen und den Neuköllner Karneval verpasst, „wenn am Aschermittwoch alle über fünfzehnjährigen Jungfrauen des Bezirks … aufgegriffen, geschoren und über den Kottbusser Damm nach Kreuzberg abgeschoben werden“. Und das „Liebenswerte“ habe sie auch übersehen, „die Lyrik der Mauern, sowohl der vertikalen wie auch der horizontalen“. In Neukölln, seufzte der Bezirksbürgermeister, „liebste Frau Olga, in Neukölln haben Sie nie gelebt.“

Schon damals nahm sich Frau O’Groschen seine Worte zu Herzen. Am 22. Januar kam es zu einem „historischen Gipfeltreffen“, sie betrat das Rathaus und schritt die Treppen zum Büro des Bürgermeisters hinauf. „Und plötzlich vermisse ich die Hand meiner Mutter. Fühle mich allein gelassen. Ausgesetzt.“ So beschrieb sie kurz darauf die Anspannung, mit der sie sich dem Gespräch stellte.

Noch viele Jahre müssen Johannes Groschupf, vormals Olga, die Worte des Bürgermeisters in den Ohren geklungen haben. Wenn er am Hermannplatz nach Neukölln einbog, an den Folterkellern vorbei die Karl-Marx-Straße entlangstrich, da erinnerte er sich womöglich an die grunzende Frau Pilarski von damals, an die aussterbenden miefigen Eckneipen, betrat vielleicht eine solche und bestellte schüchtern ein Bier. So fremd war es ihm geworden, sein Neukölln. „Wat kiekste so?“, brüllte ihn vielleicht einer an, während er gedankenversunken zum Tresen hinschaute – da war alles wieder zum Greifen nahe. Der Geruch nach Currywurst, billigem Parfüm und Hundepisse, und wie aus einem entfernten Innenhof hörte er eine Frau mit leidenschaftlicher Stimme singen: „Und sie stelln dich, Henry Higgins, an die Wand, und der King sagt, Liza, heb die Hand … Dann ziehlt allet uffs Jemäuer, ick ruf Achtung, los, Feua“, und dann eine männliche Stimme: „Nu is aba jut!“

Da beschloss er vielleicht, ihn zu schreiben, den Roman, in dem er alles noch einmal durchleben und durchleiden würde. „Hinterhofhelden“ ist die Geschichte eines westdeutschen Studenten, der in den Achtzigerjahren seine erste eigene Bude in einem Hinterhof Neuköllns bezieht, zu einer Zeit, in der Zille dort noch ausreichend Motive gefunden hätte.

Der Student ist 20, als er vom Land nach Berlin kommt, um dort zu studieren, „weil er sonst nichts vorhatte“. Nach einer Phase der Gewöhnung, in der er die langen Tage meist in seiner Wohnung verbringt, Zigaretten raucht und den Geräuschen des Hinterhofs lauscht, beginnt er, sich an den Nachmittagen aufzumachen, um den Kiez zu erkunden. Neukölln scheint ihm „ein riesiges Schiff zu sein, das knarrend im Wind“ liegt. Bald macht er Bekanntschaft mit der inneren Welt seines Hauses, lernt den Hauswart Pilarski kennen, der seine Mülltüten kontrolliert, und dessen Frau, die eine Schwäche für junge Studenten hat. Das Interesse am Studium erlahmt, als er feststellt, wie weit der Weg von Neukölln nach Dahlem ist. So bleibt er bald ganz in Neukölln und lernt Susanne kennen, die Schauspielerin werden will.

In einem Trödelladen erwirbt er eine Kamera und beginnt das Leben der Neuköllner zu dokumentieren, während er sich selbst mehr und mehr in einem Leben zu verstricken scheint, dessen Regeln ihm nicht geläufig sind. Der Hauswart verbreitet das Gerücht, er zahle seine Miete nicht pünktlich, da wird das Leben im proletarischen „Hausprojekt“ zu einem Überlebenskampf. Als ein von ihm gemachtes wenig vorteilhaftes Foto des Hauswarts, das diesen in seiner Nebentätigkeit als Fahrkartenkontrolleur zeigt, im Neuköllner Wochenblatt veröffentlicht wird, beginnt das Unheil seinen Lauf zu nehmen. ANTONIA HERRSCHER

Anm. d. Red.: Diese Kolumne, die am 6. 12. 1997 unter dem leicht abgewandelten Logo des Berliner Ensembles begann, versuchte einen „lokalen Gegenzauber“ gegen das Gespenst der Globalisierung zu zelebrieren, wobei die „Berliner Ökonomie“ als Kampfbegriff gegen die „Berliner Republik“ ins Feld geführt wurde. Aber Nun ist erst mal genug damit!