Film "Der Junge im gestreiften Pyjama": Der Rauch und die Schaukel

Der Spielfilm "Der Junge im gestreiften Pyjama" von Mark Herman will den Schrecken der Schoah ins Bild setzen und sich zugleich in Diskretion üben.

In dem Film freundet sich Schmuel (Jack Scanlon) mit dem Sohn des Lagerkommandanten an. Bild: dpa

Bruno geht in den Keller, eine Taschenlampe leuchtet ihm den Weg. Er stößt sich, für einen Augenblick erlischt das Licht. Als er es wieder anschaltet, schaut er auf einen riesigen Haufen Puppen. Beine, Arme, Köpfe stapeln sich unordentlich übereinander. Die Puppen tragen keine Kleider, ihre Haare sind zerzaust. Der Keller gehört zu einer Villa, die abweisend wie ein Bunker aussieht und in der Nähe des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz steht. Die Szene stammt aus dem Spielfilm "Der Junge im gestreiften Pyjama" des britischen Regisseurs Mark Herman; es geht darin um die unwahrscheinliche Freundschaft zwischen zwei acht Jahre alten Jungen, Bruno und Schmuel. Der erste ist Sohn des Lagerkommandanten von Auschwitz, der zweite Häftling im Lager. Sooft sie unbeobachtet sind, treffen sie sich am Lagerzaun. Als Grundlage dient das gleichnamige Buch von John Boyne. Beide, Boyne wie Herman, machen sich die Kinderperspektive und den damit verbundenen naiven Blick zu eigen. Diese Entscheidung bringt es mit sich, dass "Der Junge im gestreiften Pyjama" die Schoah als Hintergrund für freizügige Fiktionalisierung nutzt, während die meisten Spielfilme mit vergleichbarem Sujet - zuletzt zum Beispiel "Unbeugsam" von Edward Zwick - Wert darauf legen, sich an verbürgte historische Ereignisse und Personen zu koppeln.

Brunos Gang in den Keller ist deshalb wert, hervorgehoben zu werden, weil die Szene ikonisch gewordene Bilder des NS-Schreckens aufruft. Indem sie auf das Bild der übereinandergetürmten Puppen zuläuft, lässt sie zum einen an die nackten Leiber ermordeter KZ-Häftlinge denken, wie man sie beispielsweise von den Archivaufnahmen kennt, die Alain Resnais in "Nacht und Nebel" (1955) kompiliert hat, zum anderen an die von den Nazis zusammengerafften Habseligkeiten, wie man sie noch heute in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau hinter Glas aufgeschichtet sieht. Der Puppenhaufen vereint in sich eine paradoxe Mischung aus äußerster Drastik und Zurückhaltung. Was in dem Lager geschieht, zeigt sich an ihm zwar nicht direkt, sondern über einen Umweg. Der jedoch überrascht durch ein so großes Maß an Schaurigkeit, dass man sich fragt, warum er überhaupt eingeschlagen wird. Wenn die Metapher (die Puppen) etwas verhüllen möchte, was zu zeigen obszön wäre (die Leichen), warum tut sie es dann auf beinahe ebenso obszöne Weise?

Hermans Film versucht sich an einer merkwürdigen Kombination. Er will zeigen und es zugleich unterlassen, den Schrecken der Vernichtung darstellen und sich zugleich in Diskretion üben, das Bilderverbot, das die Schoah umgibt, brechen und zugleich beachten. Die Aufgabe ist zu kompliziert für den Regisseur; etwas anderes als naheliegende visuelle Lösungen und eindeutige Metaphern fällt ihm nicht ein. In einer Szene etwa sitzt Bruno auf seiner neuen Schaukel. Die Kamera folgt seiner auf und ab sausenden Bewegung; bei einem Aufschwung nimmt er zwischen den Baumkronen schwarze Rauchschwaden vor dem sommerlich blauen Himmel wahr. In der unmittelbar anschließenden Einstellung sieht man, wie er verletzt am Boden liegt. Der Anblick der Rauchsäulen provozierte offenbar den Sturz von der Schaukel.

In einer wohlwollenden Lesart ließe sich dieses Verfahren damit erklären, dass sich die Naivität der Hauptfigur auf den Film übertragen soll. So wenig der Junge begreift, was hinter dem Stacheldraht vor sich geht, so wenig strebt der Film nach einer reflexiven Ebene. Mit den staunend-begriffsstutzigen Augen des Kindes blickt er auf sein Sujet. Auffällig daran ist allerdings, dass die unwissenden Augen (und mit ihnen die Kamera) meist das anschauen, was der Zuschauer, der mehr weiß, als hochgradig aufgeladen wahrnehmen muss - die Hakenkreuzfahne in der allerersten Einstellung, die Rauchschwaden, die bedrohlich sirrende elektrische Ladung des Lagerzauns, die Puppen im Keller. "Der Junge im gestreiften Pyjama" kennt keine Nebensachen, keine Abschweifung, er kennt keine Zeichen, die nicht bedeutungsschwanger wären. Stattdessen setzt der Film immer wieder auf Signale, die laut rufen: Konzentrationslager! Vernichtung! Grauen! Er schreckt nicht einmal davor zurück, die Kamera in eine Gaskammer hineinzuschicken. Dort verliert sie zwischen den zitternden, dicht gedrängten Körpern der Lagerinsassen die Orientierung und schaut schließlich nach oben, in eine zum Himmel hin offene Luke, durch die Zyklon-B-Körner rieseln. Erst dann blendet sie ab.

"Der Junge im gestreiften Pyjama" arbeitet immer wieder mit Chiffren des Grauens, mit mechanischen Reizen, verstärkt noch durch allgegenwärtige Streicherklänge. Der Filmwissenschaftler Thomas Elsaesser hat einmal notiert, es brauche "intensive psychische Arbeit", um mit solchen Bildern auszukommen; "selbst deren Neutralisierung oder Ausblenden aus dem Gedächtnis kostet Energie". "Der Junge im gestreiften Pyjama" borgt sich, was man angesichts des historischen Faktums der Vernichtung empfindet, und will sich dessen Intensität selbst zuguteschreiben: ein perfides Geschäft.

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