Bilder hinter Gittern

KNASTKUNST Respekt für Kunst statt kreativer Freizeitbeschäftigung bietet das Projekt „Outsider Kunst“, das Ateliers in Gefängnissen organisiert und eine Galerie betreibt. Der Künstlerbegriff wird sehr ernst genommen

Künstlerische Begabung hängt offenbar nicht mit guterFührung zusammen

VON DANIELA HÖHN

Zum Kunstatelier der Justizvollzugsanstalt Lichtenberg gelangt man nicht so ohne Weiteres. Sechs Panzertüren müssen auf- und wieder zugeschlossen werden. Die schmalen Gänge scheinen endlos zu sein. Dann erst ist man angekommen, in einem großen, hellen Raum, dessen Fenster vergittert sind und ungewöhnlich hoch ansetzen. Eine Gruppe Frauen kommt herein. Sie tragen Privatkleidung, manche dazu Hausschuhe oder Badeschlappen. Weit laufen können sie ohnehin nicht. Hände werden geschüttelt, Leinwände aufgespannt und Farben zurecht gemischt.

Mal- und Zeichenkurse gibt es in vielen deutschen Gefängnissen. Meist geht es dabei um ein Angebot „sinnvoller Freizeitgestaltung“. Damit will sich Michael Keppler vom Projekt „Outsider Kunst“, der die Kurse in Lichtenberg und anderen Berliner Knästen leitet, jedoch nicht zufrieden geben. Als bildender Künstler legt Keppler Wert auf eine Arbeitsatmosphäre mit Ateliercharakter. Wer von den Teilnehmern künstlerische Ambitionen entwickelt, wird entsprechend gefördert. Alles kann, aber nichts muss.

Jana* jedenfalls findet den österreichischen Künstler Hundertwasser „crazy“. Sie mag die bunten Farben seiner Bilder. Eines malt sie ab. Wenn es fertig ist, soll es ihre Zelle schmücken. Konzentriert setzt Jana Pinselstrich neben Pinselstrich. Irgendwann geht ihr dann aber doch die Puste aus. Michael Keppler kommt dazu und malt ein bisschen mit. Die beiden reden. Auch das ist manchmal wichtig.

„Draußen“, in der Brunnenstraße, einer der bekannteren Berliner Galeriemeilen, haben Kingbob und Sascha gerade ihre erste Ausstellung eröffnet. Die beiden großen, kräftigen Männer arbeiten im Atelier der Outsider-Galerie, das zugleich Ausstellungsraum ist. Hier herrscht immer reger Betrieb. Haftentlassene und Freigänger malen und bildhauern, aber auch Leute aus dem Kiez, die wenig Geld haben. Sascha und Kingbob kommen regelmäßig, denn für sie ist die Kunst längst zum Lebensmittelpunkt geworden. Darin unterscheiden sich die beiden nicht von den vielen anderen Künstlern in der Brunnenstraße. Trotzdem sind sie Outsider.

Outsider Art ist mittlerweile ein feststehender Begriff. Er meint Werke von sogenannten Naiven, Künstlern, die keine akademische Ausbildung haben. Das Interesse daran hat viel mit der Sehnsucht nach einem authentischen, zivilisatorisch noch nicht überformten Gefühlsausdruck zu tun. Paul Gauguin reiste deshalb bis nach Polynesien. Die Expressionisten setzten sich mit der Malerei von Kindern und psychisch Kranken auseinander. Der französische Maler Jean Dubuffet erklärte die Art Brut, wie er die Außenseiterkunst nannte, gar zur einzig wahren Kunst, da sie frei sei von den intellektuellen Manierismen der Hochkunst. Auch Michael Keppler, der Outsider Kunst 2007 als Projekt der Freien Hilfe Berlin e. V. gegründet hat, stellte während seines Studiums fest, dass ihn der herkömmliche Kunstbetrieb kalt lässt. Er sieht Kunst als einen Freiraum, eine Rückzugsmöglichkeit, die jeder Mensch individuell gestalten kann. Das passt zu den Leuten im Gefängnis, die Freiheit, zumindest für die Zeit ihrer Inhaftierung, in sich selbst finden müssen.

Kingbob aus dem offenen Atelier in der Brunnenstraße „macht einfach“, wenn er malt. Er lässt seinen Gefühlen freien Lauf und hat dadurch eine fröhliche, unbeschwerte Seite an sich entdeckt, die im Alltag oft nicht so zur Geltung kommt. Seinen Bildern sieht man das an.

Norma*, die den Kunstkurs in der Justitvollzugsanstalt Lichtenberg besucht und an einem Tattoo-Muster arbeitet, sagt, dass Zeichnen für sie „wie autogenes Training“ sei. Man komme zur Ruhe. Sonja* dagegen will Action. Sie gestaltet am liebsten plastisch. Ein Totenschädel und eine geballte Faust aus Gips sind schon fertig. Jetzt hat sie mit einem männlichen Rückenakt angefangen. Alexandra Böhm, die als Bildhauerin das Atelier in Lichtenberg begleitet, erklärt Sonja, wie perspektivische Verkürzungen funktionieren. Sie hält die quirlige, junge Frau für talentiert, vor allem, weil sie das dreidimensionale Sehen, das für die Bildhauerei so wichtig sei, gut beherrsche.

Künstlerische Begabung hängt offenbar nicht mit guter Führung zusammen. Immerhin haben auch einige Größen der Kunstgeschichte gesessen: der spätgotische Bildhauer Veit Stoß zum Beispiel, wegen Dokumentenfälschung, oder der frühbarocke Maler Michelangelo Merisi, genannt Caravaggio, ein Gewalttäter. Allerdings haben Stoß und Merisi schon als Künstler gearbeitet, bevor sie kriminell wurden.

Die heutigen Outsider hatten biografisch nicht die Möglichkeit, eine künstlerische Ausbildung zu absolvieren. Vom Konzept her legt die Outsider Art solche Menschen auf ihr Anderssein fest. Das macht sie fragwürdig. Und wird dadurch, dass die Randständigkeit der Künstler im Vordergrund steht, nicht der Blick auf die Kunstwerke selbst verstellt? Das Berliner Outsider-Kunst-Projekt versucht, eben das zu vermeiden, indem es Außenseiter als Künstler ernst nimmt, ihnen ihrerseits aber auch selbst Respekt für das künstlerische Schaffen abverlangt. Vielleicht ist das viel wichtiger als die Frage nach „in“ und „out“. * Name geändert

■ „Outsider“-Ateliers gibt es in den JVAs Lichtenberg, Pankow und Tegel. Die Galerie befindet sich in der Brunnenstraße 28; Öffnungszeiten: Di. 9.30–18 Uhr, Mi. 12–18 Uhr, Do., Fr. 9.30–14.30 Uhr, Sa. 14–17 Uhr