Der schnellste Finger der Welt

TIPP-KICK Zwei Spieler, zwei Figuren, zwei Tore, ein Brett, ein Ball. Seit mehr als 80 Jahren gibt es das Fußballspiel fürs Wohnzimmer. Der 35-jährige Normann Koch aus Lübeck ist der wohl beste Tipp-Kicker weltweit und revolutionierte mit einer neuen Schusstechnik die Bleifiguren-Bundesliga

Durch eine simple Entdeckung revolutionierte Koch 1990 das Spiel, als er bemerkte, dass man den Ball durch gezieltes Anspielen um die eigene Achse rotieren lassen kann

VON JULIAN KÖNIG

Mit der linken Hand hält Normann Koch seine Spielfigur an Oberkörper und Sockel fest, mit der rechten bewegt er durch schnelles Drücken auf den kleinen roten Knopf am Kopf des Spielers das Schussbein. Wie ein Golfer, der seinen Schwung vor dem Abschlag durchgeht, visiert auch Koch zunächst an, bevor er den kleinen schwarz-weißen, zwölfeckigen Ball aus dem eigenen Strafraum in den Winkel des gegenüberliegenden Tores ballert. Von der Zielausrichtung bis zum Tor vergehen nur Bruchteile von Sekunden – kein Wunder: Dieser Schuss gehört zu den Spezialitäten des wohl besten Tipp-Kick-Spielers weltweit.

Mitte der 1930er Jahre erlebte das Tipp-Kick-Spiel den ersten Boom in Deutschland. Die Idee des Stuttgarters Karl Mayer, der später sein Patent an Edwin Mieg verkaufte, war simpel. Das eigentliche Fußballspiel reduzierte er auf jeweils einen Feldspieler und einen Torwart pro Mannschaft. Gespielt wurde mit einem Ball, der auf der einen Seite weiß und auf der anderen schwarz war. Vor dem Spiel wurde festgelegt, wer bei welcher Farbe schießen durfte.

Dieses Regelwerk hat sich bis heute nicht geändert, das Spiel hingegen schon. Die Tipp-Kick-Romantik, bei der jeder Spieler die gleichen Chancen auf einen Sieg hat, ist einem harten Turniersport gewichen. In ganz Deutschland sind Tipp-Kicker in Vereinen organisiert und spielen in Form einer Bundesliga „Deutsche Meisterschaften“ in der Mannschaft und bei Wochenendturnieren die Einzelmeisterschaften aus.

Aus dem einstigen Kinderspiel ist längst eine Wissenschaft geworden und Koch ist ihr Professor. Der 35-jährige Lübecker bekam vor 25 Jahren von seinem Onkel sein erstes Spiel geschenkt und war sofort angefixt. „Damals“, sagt er, „hatte ein Freund aus der Nachbarschaft ein Tipp-Kick-Spiel. Er wollte aber nur Lego mit mir spielen und ich war dann stinkbeleidigt“. Im Sportgeschäft des Onkels sah Koch dann das Spiel und wünschte es sich zum Geburtstag – das war 1984. Da seine Eltern und seine Schwester keine Lust hatten, mit ihm den kleinen Hartplastikball zu kicken, spielte er fast immer gegen sich selbst.

In den Lübecker Nachrichten stolperte sein Vater zwei Jahre später über eine Anzeige des Vereins Blau-Weiss Concordia Lübeck, der eine Amateurmeisterschaft für Hobbyspieler austrug. Koch ging hin und meldete sich wenig später im Verein an. „Ich habe damals fast täglich gespielt“, sagt er. Mit Sebastian Winckelmann, der in seiner Nachbarschaft wohnte, feilte Koch damals verbissen an der eigenen Technik und wurde mit ihm, Oliver Schell und Dirk Kallies später elf Mal Deutscher Mannschaftsmeister.

Durch eine simple Entdeckung revolutionierte Koch 1990 das Spiel, als er bemerkte, dass man den Ball durch gezieltes Anspielen um die eigene Achse rotieren lassen kann. Das beeinflusse „zu 95 Prozent die Farbe“, sagt Koch. Als er seine Entdeckung Mitspieler Schell zeigen wollte, klappte es auf Anhieb zunächst nicht. „Aber in der darauffolgenden Zeit erkannte ich dann doch, dass es funktionieren muss, weil das einfach kein Zufall mehr sein konnte, so oft wie seine Farbe kam“, sagt Schell. Fortan galten die Ausreden der Konkurrenz von „Farbenglück“ nicht mehr und die taktische Spielweise war grundlegend auf den Kopf gestellt. „Die haben am Anfang ganz schön geschimpft“, erinnert sich Koch.

Stundenlang feilte Koch vor allem aber an den Schussbeinen seiner Spieler. Aus Edelstahl baute er verschiedene Füße, die entsprechend der Ausrichtung unterschiedliche Aufgaben erfüllen. Während Koch mit dem einen Spieler wunderbare Außenrist-Schlenzer um den Gegenspieler ins Tor spielen kann, ist der andere Spieler für mehr Spinn verantwortlich, der Dritte für Aufsetzer und so weiter. „Es sind pro Tipp-Kicker vier Spieler zu gelassen, da muss man einen Kompromiss finden, welche Eigenschaften die haben sollen“, sagt Koch.

Seine Figuren plus Torwart hat er mit Hilfe mit Nitroverdünnung von der Farbe befreit, „weil die Figuren beim Schwitzen nicht so gut in der Hand liegen“. Wer an dieser Stelle denkt: „Wie soll man beim Tipp-Kick ins Schwitzen kommen?“, dem genügen fünf Minuten eines Meisterschaftsspiels zur Beantwortung. Mit Hochgeschwindigkeit jagen die Spieler den Ball über das Feld, kontern, dribbeln und schießen aus allen Lagen.

Echter Tipp-Kick-Schweiß ist aber kein Resultat von Kraft und Ausdauer, sondern folgt aus der hohen Anspannung und Konzentration während einer Partie. Wie beim normalen Fußball entscheidet auch beim Tipp-Kick die Nervenstärke am Ende meist über Sieg oder Niederlage. „In den entscheidenden Momenten ist er voll da“, beschreibt Schell die Stärke seines Mitspielers, der zu Beginn eines Turniers meist noch nicht in Topform sei. Dem stimmt Koch zu. Sein Fokus liege auf dem Ende des Turniers. „Im Idealfall gelange ich in einen meditativen Zustand mit totaler Aufmerksamkeit auf das Spiel“, sagt Koch. In diesen Situationen vergisst er die Umwelt und ist in Drucksituationen deshalb stärker. Oft gewann er seine Spiele deshalb erst im allerletzten Moment.

Er habe gemerkt, dass man beim Tipp-Kick und bei der Meditation einen ähnlichen Zustand erreichen könne, sagt Koch, der neben dem Miniatur-Fußball eine zweite Leidenschaft hat. Der Stuttgarter Musiker Thomas D. inspirierte ihn mit seinen Texten über Meditation. Koch, ein Liebhaber der „Fantastischen Vier“, suchte die nächste Buchhandlung auf und besorgte sich Literatur zum Thema. „Anfangs war ich frustriert, weil es zunächst überhaupt nicht klappen wollte“, sagt er, doch wie schon beim Tipp-Kick blieb der selbst ernannte „Perfektionist“ beharrlich.

Seine Erfolge sind seither eng mit Meditation verknüpft. „Wenn ich regelmäßig vor Wettbewerben meditiere, dann komme ich während der Meisterschaften schneller in den Zustand, den ich brauche, um erfolgreich zu sein“, verrät er. Dann fordert er dazu auf, irgendein Ziel auf dem Feld zu nennen, er würde es aus einen Meter Entfernung treffen. Das linke Lattenkreuz soll es sein. Wieder visiert der sechsmalige Einzelmeister kurz an und schießt in den Winkel. Daneben. „Vorführeffekt“, sagt er kurz, lacht, und legt die Figur beiseite. Vielleicht war die Drucksituation aber auch einfach nicht groß genug und Koch in keinem meditativen Zustand.