Wenn alles zerfällt

PROFESSOR UNRAT In eine Dramatisierung von Heinrich Manns Roman packt Sebastian Baumgarten am Maxim Gorki Theater verwirrend viel – von den deutschen Kolonien bis zum Zweiten Weltkrieg

Es scheint, als dürfte man nicht in die Personen eintauchen, als sollte alles Oberfläche bleiben

VON STEFANIE KLEIN

Mit Kriegsbildern und einer Explosion endet die zweistündige Inszenierung von „Professor Unrat“ am Maxim Gorki Theater. In seiner Romanrevue löst der Regisseur Sebastian Baumgarten die Abfolge der Ereignisse um den Lehrer Emanuel Raat so lautstark auf, dass das Scheitern der Hauptfigur und damit der Untergang des Bürgertums körperlich spürbar wird. Ob er damit eine anstehende Wiederholung der Geschichte voraussagen möchte, bleibt offen.

Baumgarten, der bisher vor allem klassische Stücke und Opern inszenierte, nimmt sich mit dem 1904 von Heinrich Mann verfassten Roman einen jüngeren und durch den „blauen Engel“ stark filmisch geprägten Stoff vor. Auf der Bühne lässt er es jedoch bei kleinen Referenzen an Marlene Dietrich bewenden und konzentriert sich auf den von Mann intendierten soziologischen und gesellschaftskritischen Blick auf die Liebesgeschichte zwischen der Künstlerin Rosa Fröhlich (Kathi Angerer) und Emanuel Raat, genannt Unrat (Andreas Leupold).

Treibender Hass

Im Grunde beschreibt das Stück den Zerfall: den Zerfall Unrats, der aus Hass die Zerrüttung des 50.000-Seelen-Städtchens anstiftet und damit den Zerfall der bürgerlichen Gesellschaft repräsentiert. Vielleicht ist es dieses Zerfallende, dass die Szenen durchgängig so fragmentiert und abgetrennt wirken lässt. Bei vollem Einsatz der Schauspieler erscheinen die Dialoge oftmals aufgesagt und die Verwandlung des Tyrannen Unrat in einen liebesgetriebenen Rächer kann das Publikum emotional nur erahnen. Auch die Motive der unterhaltsam und überzeugend gespielten Figur Rosa und ihr wahres Verhältnis zu Unrat bleiben unklar. Es scheint, als dürfe man nicht in die Personen eintauchen, als sollte alles Oberfläche bleiben.

Hin und wieder bekommt man das Gefühl, als scheitere die Inszenierung an der vielschichtigen Interpretation des Stoffs. Die geschichtlichen Bezüge zur Kolonial- oder Flottengeschichte Deutschlands über Videoeinblendungen und Lieder sowie visuelle Metaphern wie Marterpfahl und Hasenkostüme lassen sich nur mit Mühe mit dem gespielten Zusammenhang verknüpfen. Diese Konfusion spiegelte sich auch in einigen fragenden und verwirrten Gesichtern während des Applausses wieder.

Was man Baumgarten und der Dramaturgin Carmen Wolfram hoch anrechnen sollte, ist ihr gestalterischer Einfallsreichtum. Gemeinsam schöpfen sie das Repertoire an performativen Stilmitteln in allen Szenen voll aus. Ob Puppen- oder Schattenspiel, Pantomime, Filmausschnitte, Varieté-Einlagen, Bauchreden – die Handlung ist durchgängig durchsetzt mit vielseitig eingesetzten Effekten jenseits des klassischen Theaters. Dazu brechen komödiantische Momente und Wortspiele überraschend die ernsthaften Dialoge, so dass zum Beispiel die Frage nach einer Salmiakpastille zu Gekicher im Zuschauerraum führt.

Wie schon bei „Tosca“ nutzt Baumgarten Live-Musik auch in diesem Stück als zentrales Element der Aufführung und leitet mit einem elektronisch melodischen Soundtrack und Geräuschen akustisch durch das Geschehen auf der Bühne. Die in das drehbare Bühnenbild integrierte dreiköpfige Band vertont die Unrat’sche Tyrannei ebenso gekonnt wie die Varieté-Nummern von Rosa und Guste und sorgt so für den im Untertitel versprochenen Revuefaktor.

Aufgrund der Diskrepanz zwischen der Vielfalt der eingesetzten Mittel und der emotionalen Wirkung bleibt die Frage, wie das Romanmaterial von Heinrich Mann bezogen auf unsere heutige Zeit überhaupt gesellschaftsrelevant im Theater umgesetzt werden kann. Man kann es sich als Regisseur natürlich einfach machen und die Liebesgeschichte in den Vordergrund stellen, wie Josef von Sternberg es 1929 im Film getan hat. Alternativ dazu kann der Regisseur an das Heute anknüpfen und die Intention des Autors in das Jetzt übertragen.

Baumgarten hingegen überträgt mit „Professor Unrat“ ein Stück Deutschland in das Maxim Gorki Theater, das wir vergangen glauben und animiert uns damit, genau hinzusehen und zu schauen, ob nicht hier und da doch Parallelen vorhanden sind. In diesem Mut zum Aufrühren gleicht er ein wenig seiner Hauptfigur Unrat, über die Gegenspieler Lohmann im Stück sagt: „Dafür muss man schon ein Stück Anarchist sein.“

■ Wieder am 4. Juli, Gorki-Theater