Abenteuer eines Messerwerfers nach Schema F

POSTROMANTIK Stephen Millhausers Kurzgeschichten handeln von der Perfektion, die ins Monströse kippt

Millhauser entstaubt Hofmannsthals Chandos-Brief, ohne zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Wie auch?

Steven Millhauser wird in den USA als Meister und Innovator der Kurzgeschichte gefeiert und für seine Imaginationskraft und seinen Einfallsreichtum gepriesen. Warum eigentlich?, fragt man sich nach der Lektüre von „Ein Protest gegen die Sonne“, der von Laurenz Bolliger zusammengestellten und mit einem etwas ungelenken Nachwort versehenen Best-of-Auswahl aus den vier Short-Story-Bänden des Autors.

Sehnsuchtsort, Zauberwort

Wohlfeile Postromantik tischt Millhauser hier auf – mit Ausflügen ins Groteske, mit der entsprechenden Vernunftfeindlichkeit und der wahren poetischen Existenz als Sehnsuchtsort, die immer nur ein Zauberwort entfernt liegt. Und das alles in einer altertümlich kostbaren, wabernden, aufgeschwemmten, ja teilweise eben auch ziemlich geschwätzigen Diktion – als müsse Millhauser wettmachen, dass er gar nicht so viel zu erzählen hat. Es bleibt nichts als bedrohliche Stimmungen und geheimnisvoll-zwielichtige Atmosphären, die elektrisch knistern und aufgeladen sind mit verworren parabolischem Nebensinn.

Ärgerlich auch das abgeschmackte, absolut durchsichtige Schema F der Plotstruktur: der geniale Messerwerfer, der schließlich die Grenze überschreitet, indem er als artistisches Meisterstück jemanden auf offener Bühne meuchelt; die Lachgesellschaften, die sich orgiastischen Lachmarathons hingeben, bis sich die größte Könnerin in einer finalen Session buchstäblich totlacht; der geniale Miniaturist, der immer kleinere Nachbildungen der Realität erschafft, bis sein Perfektionismus ihn die Grenze zur Unsichtbarkeit überschreiten lässt; der Modemacher, dessen Kleider langsam zu Skulpturen werden, unter denen ihre Träger schließlich völlig verschwinden.

Paradies in Gefahr

Es ist eine imaginative Dialektik der Aufklärung, die Millhauser hier inszeniert: Wenn die menschliche Perfektion nur weit genug getrieben wird, kippt sie um ins Monströse und Inhumane. Dagegen setzt er nun, wie könnte es anders sein, den Garten Eden der Fantasie und Poesie. Aber der ist natürlich ständig in Gefahr – durch die Ratio, die Profanität des Alltags und die Sprache der Vernunft.

So wird dann auch noch einmal Hofmannsthals „Brief des Lord Chandos“, das Fin-de-Siècle-Manifest der Sprachskepsis, entstaubt und aus der Perspektive eines zeitgenössischen Wirtschaftsanalysten neu formuliert, ohne dass Millhauser zu wesentlich neuen Ergebnissen käme. Wie auch?

Und wenn er dann einen adoleszenten Jungen in eine Spielhalle schickt, die durch die allgemeine „Verschwörung der Dumpfheit“ ihres wahren Mysteriums beraubt worden ist, von dem Jungen jedoch „in einem Augenblick großzügiger Aufmerksamkeit“ wiederentdeckt wird, dann sind wir schon fast bei Pur: „Komm mit mir ins Abenteuerland / der Eintritt kostet den Verstand.“ FRANK SCHÄFER

■ Steven Millhauser: „Ein Protest gegen die Sonne. Short Storys“. Ausgewählt von Laurenz Bolliger. Aus dem englischen Amerikanisch von Eike Schönfeld. Berlin Verlag 2009, 319 Seiten, 22 Euro