Schmal gewordener Traum

CHINA Von der gelben Landschaft in den Bus und in die Enge einer düsteren Wohnung: Chinesische Filme vermessen Reisen, Hoffnungen und Enttäuschungen mehrerer Generationen. Filmreihe im Arsenal

Wieder hat einer den Traum vom schnellen Wohlstand zu wörtlich genommen

VON SUSANNE MESSMER

Die letzte Szene des Films „Gelbe Erde“, des Debütfilms von Chen Kaige aus dem Jahr 1984, ist aufschlussreich für das chinesische Kino: Gu Ching, der Soldat der chinesischen Befreiungsarmee, hatte im entlegenen Dorf Volkslieder für die Revolution gesammelt und sich dabei in die schöne Cui Qiao verliebt. Er musste fort, nun kehrt er zurück. Doch es ist zu spät. Cui Qiao, die ihm folgen und der Zwangsheirat entkommen wollte, ist beim Fluchtversuch gestorben. Der Soldat wandert über den unendlich weiten, staubigen und unfruchtbaren gelben Löß und platzt in eine unheimliche Szene.

Die männlichen Dorfbewohner haben sich Kränze aus grünem Gestrüpp geflochten und verbeugen sich wieder und wieder vorm Totem des Drachengottes, der endlich Regen bringen soll. Sie tanzen, stampfen, singen und brüllen sich in Trance. Der kleine Bruder Cui Qiaos sieht den Soldaten, reißt sich den Kranz vom Kopf und versucht vergebens, durch die schier besinnungslosen Männer zu ihm zu gelangen. Die Vision von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit war bestrickend, aber hohl – die Strukturen auf dem Land, Tradition und Aberglaube, sind wenigstens verfügbar. Wie sollte es auch anders sein? Die Partei, die die goldene Zukunft verspricht, ist noch ferner und unbeständiger als der Drachengott.

Es sind die Menschen, die entgegen aller gesellschaftlichen Versprechungen und Verheißungen auf der Strecke bleiben, für die sich der chinesische Film der letzten Jahre immer wieder besonders interessiert hat. Das zeigt eine Filmreihe im Arsenal, die mit einem knappen Dutzend Filme fünfzig Jahre Filmgeschichte unter dem Titel „Zeugnisse der Veränderung“ übers Knie brechen will – eine Tour de Force. Da die Filme viel zu selten auf der Leinwand zu sehen sind, ist das dennoch zu begrüßen.

Langes Haar und Tattoo

Spulen wir zehn Jahre vor, bis zur ersten Szene des Debütfilms von Jia Zhangke „Xiao Wu“ von 1997. Jia Zhangke ist der berühmteste Vertreter der Regiegeneration nach Chen Kaiges, der sogenannten sechsten Generation. Erzählt wird die Geschichte eines Taschendiebes in einer armen, chinesischen Kleinstadt. Der Schwenk geht über zwei Frauen und Männer in einfacher, bäuerlicher Kleidung am Straßenrand, die auf den Bus warten, zwei von ihnen stehen, zwei von ihnen hocken, Schnitt. Ein junger Mann mit viel zu langem Haar, extravaganter Brille und einem schäbigen Jackett, das irgendwie lässiger wirkt als die der anderen, zündet sich gemächlich eine an. Dann winkt er etwa so nonchalant nach dem Bus wie nach einem Taxi Broadway Ecke Sixth Avenue. Als er sich auf den Sitzplatz schwingt, wird eine selbst gemachte Tätowierung auf dem Unterarm sichtbar. Den Ticketverkäufer lässt er mit einem unverschämten Grinsen abblitzen! Dann zieht er dem Sitznachbar den Geldbeutel aus der Tasche.

Doch fliegen Xiao Wu die gebratenen Tauben nur vorübergehend in den Mund. Nach und nach ziehen alle Freunde an ihm vorüber, arbeiten hart, machen Karriere und legales Geld, heiraten und gründen Familien. Linkisch wirkt der sympathische Dieb beim Rendezvous mit der Prostituierten. Verzweifelt wirkt er, als er schließlich von der Polizei geschnappt wird. „Für Elise“ spielte sein Feuerzeug, wenn es angezündet wird, „Für Elise“ tönt es auch aus dem Fernseher auf der Polizeiwache am Schluss.

Wieder hat einer den Traum vom schnellen Wohlstand zu wörtlich genommen, wieder wurde einer abgehängt. Dass man gar nicht in der Provinz leben muss, um sich vom Aufstieg Chinas zur Wirtschaftsmacht ausgeschlossen zu fühlen, zeigt schließlich der Film „Oxhide“ („Rindsleder“) aus dem Jahr 2005, der den Zuschauer in die Verzweiflung einer Familie in Peking zerrt und sperrt. Die Existenzgrundlage steht auf dem Spiel, das kleine Taschengeschäft der Familie muss geschlossen werden.

Peking klaustrophobisch

„Oxhide“ kommt mit nur 23 starren Kameraeinstellungen aus, die Bildausschnitte sind oft winzig und schmiegen sich mimetisch an das klaustrophobische Lebensgefühl der Familie in der engen Arbeiterwohnung an, an ihre Versagensängste, an die Ausweglosigkeit ihrer Situation. In der ersten Szene zum Beispiel sieht man nur einen Drucker. Die Eltern unterhalten sich aus dem Off über die Gestaltung eines Schildes für den Ausverkauf. „Die Schriftzeichen sollten größer sein“, sagt die Mutter, „Okay, ich mache sie größer“, antwortet der Vater.

Von der gelben Landschaft in den Bus und in die Enge einer düsteren Wohnung: Die Reise der meisten Menschen in China war in den vergangenen zwanzig Jahren sehr, sehr weit. Ihre Hoffnungen, ökonomisch Fuß fassen zu können, sind in den meisten Fällen immer begrenzter geworden. Es scheint, als habe sich auch der Raum, in dem sich ihre Träume entfalten könnten, mit verengt. Der chinesische Film hat dafür stimmige Bilder gefunden.

■ Bis 29. 9., Programm unter www.fdk-berlin.de