Kleine Dramen

BAND DER STUNDE Das Debütalbum der Londoner Band The XX ist eine Offenbarung. Fragil, ohne Gepose, nur mit dem Nötigsten instrumentiert. Ab heute auf Tournee in Deutschland

Was hier zählt, ist das Gefühl, das man selbst in diese Musik hineinlegen kann oder aus ihr herausholen

VON RENÉ HAMANN

In den letzten Wochen lief kaum etwas anderes. Auf dem Klapprechner, im CD-Spieler, im Kopf. „Infinity“ und „Crystalised“ von The XX. Zwei Stücke, immer im Wechsel.

The XX aus London tragen einen Namen, der gleich doppelt Programm ist. Einerseits kündet er von Reduktion, von Minimalismus. The XX beherrschen die Kunst des Weglassens, ihre Musik besteht nur aus dem Nötigsten. Andererseits kündet ihr Name von Ausgestrichenem. Ausgeixtem. Von privaten Dingen, kalten Befunden schmerzhafter Seelenzustände oder einfach von doppelten Exfreunden oder Exfreundinnen. Denn davon handelt „XX“, das Debütalbum dieser vier noch sehr jungen Leute, alle Anfang zwanzig. Von emotionalen Zuständen. Die in kurzen, viel Interpretationsraum zulassenden Sätzen formuliert sind. „After you / Had you seen me with someone new / Hanging so high for your return / But the stillness is a burn.“

Raum für Notizen

Klingt abstrakt? Ist es aber nicht. Es ist einfach Popmusik, die nicht nur textlich, sondern auch musikalisch von den Künsten der Reduktion weiß. Und Raum bietet für Notizen, Gefühle, Einblicke in Abgründe. Vergleiche zu den Young Marble Giants, der Postpunk-Legende aus Wales, die in ihrer kurzen Bandkarriere Anfang der 80er-Jahre nur eine Platte gemacht hat, drängen sich auf und werden in so gut wie jedem Artikel zu The XX angestrengt. Was an der Instrumentierung liegt, dem sparsamen Spiel auf Bass, Gitarre, unscheinbaren, meist spukhaften Keyboards und einem Drumcomputer.

Andererseits zögern und springen die Stücke auf „XX“, die Instrumente, die Sounds stoppen und gehen, bauen so kleine dramatische Elemente in die simplen, aber unkonventionellen Arrangements ein. Auf ihrer Myspace-Seite gibt die Band korrekt New Wave, Pop und Soul als Stilreferenzen an.

Besonders am Sound von The XX ist die nonchalante Mischung dieser althergebrachten Stile. Und die Coolness des Unbeeindrucktseins. Die Verachtung des Anbiederns. The XX haben gar nichts mit den Hypes der vergangenen Jahre gemein. Sie verzichten auf Mitgröl-Refrains und jegliche rockistische Gesten. Sie stoßen keine Discokugeln an. Gepose ist ihnen fremd.

Sie fügen dem kargen New Wave lediglich ein Element hinzu, der besonders in den Stimmen von Romy Madley Croft, die auch Gitarre spielt, und Bassist Oliver Sim liegt. Seele. Emotion. Kränkung und Affekt. Und sie gleichen dieses Klangspektrum, das man auch Minimal Soul nennen könnte, dank der hauchzarten Tristesse der Stimmen, mit einer Surfgitarre aus. Ihr Twang klingt nach Chris Isaak, besonders im oben zitierten Stück „Infinity“, so etwas wie die späte, aber berechtigte Antwort auf dessen Evergreen „Wicked Game“. Manchmal erinnert der Wechselgesang zwischen Croft und Sim auch an die besten Duett-Augenblicke von Tricky und Martina Topley-Bird.

Musik im Kindergarten

Kennengelernt haben sich Croft und Sim in einem Kindergarten. Eine Sandkastenliebe zwischen schwarz und weiß? Die beiden arbeiteten als Kindergärtner. Musizierten mit den Kindern, saßen in den Pausen im Musikzimmer und spielten dann selbst. Danach sind sie rausgegangen und haben sich zwei Musikstudenten mit ebenfalls diversen Hintergründen dazugesucht, Baria Qureshi spielt die zweite Gitarre, Jamie Smith bedient die Drummaschine.

Bescheiden sollen sie sein, diese vier, natürlich und schüchtern, zurückhaltend und reserviert, dabei mit einer aufschimmernden Tiefe, ganz wie ihre Musik. Klingt wie ausgedacht, zusammengestellt oder einfach glücklich zusammengefunden, diese Konstellation, was aber für die Rezeption dieser Musik tatsächlich völlig unerheblich ist. Denn was hier zählt, ist das Gefühl. Das man selbst in diese Musik hineinlegen kann oder aus ihr herausholen. Das durch die Melodieschleifen, die durch die Breaks recht eckig daherkommen, in den Bauch kriechen möchte. Diese Musik klingt wie der Kuss einer Wolke, so ähnlich hat das die BBC formuliert. Ein manchmal sehr bitter schmeckender Kuss.

„I can’t give it up/To someone else’s touch/Because I care too much“, singt Croft, während Sim genauso tonlos „Give it up“ dazwischensingt. Als Echo, Widerhall, Antwort, mitzubedenkende Kehrseite, gleichzeitige Handlung. „Infinity“ ist nicht das einzig herausragende Stück der Platte. „Crystalized“, „Heart Skipped a Beat“, das sind die anderen Hits, funkelnde Besonderheiten mit, ja – Entschuldigung- , unter die Haut schleichenden Melodien.

Hier hat Tiefe noch Sinn

Dank der im Booklet abgedruckten Texte fällt auf, dass die großen Wörter verwendet werden, Wörter, die hier tatsächlich Coolness behaupten, was an der Nähe zur Jugend liegen könnte. Anders ausgedrückt: Hier hat Tiefe noch Sinn. Hier sind die Spuren noch frisch, die Verletzungen tief. Also heißt es Infinity, Heart, Islands, Fantasy, Shelter, Night Time. Nur das Wort mit L fällt nie. Die rosa Seite der Gefühle hat auf dieser Platte keinen Platz. „Maybe I had said / Something that was wrong / Can I make it better / With the lights turned on“, fragt Croft in „Shelter“. Schauen wir mal.

The XX ist eine der Bands der Stunde. Es wirkt, als ob sie die Zeitströme aufgenommen und dann abgekocht hätten. Sie nehmen von allem nur das Wesentliche. Spannend ist jetzt natürlich die Frage, wie sie das Niveau halten wollen. Mehr als die eine Platte, mehr als die Young Marble Giants damals geschafft haben, sollte schon sein. The XX ist die Antwort auf den Niedergang des Britrocks, die Antwort auf die Krise, und diesmal braucht es keine Hilfe.

Fans erkennt man an dem X auf dem T-Shirt.

■ The XX: „XX“ (XL/Beggars Group). Tourdaten: 13. 10. Berlin, 14. 10. Hamburg, 15. 10. Köln, 16. 10. München, 2. 11. Stuttgart, 3. 11. Frankfurt/Main