SONNTAGSSPAZIERGANG
: Goetzens neues Buch

In echt hatten wir uns ein Jahr nicht gesehen

Sie war gerade aus Hongkong zurückgekommen, und weil sie dann wegen des Jetlags länger geschlafen hatte als geplant, hatte sie die Party verpasst, unter deren Folgen ich noch litt, als wir uns gegen Mittag trafen.

In echt hatten wir uns fast ein Jahr nicht mehr gesehen; wir hatten Kaffee getrunken; sie hatte gesagt, Hongkong sei viel weitläufiger, als sich das Hongkong-Filmfreunde so vorstellen, und ich hatte erzählt, dass das neue Buch von Rainald Goetz gerade erschienen sei und dass C. geschrieben hatte, es handle sich bei bei „Loslabern“ um einen seiner besten Texte nach, seit oder neben „Soziale Praxis“ und „Katarakt“.

Wir waren spazieren gegangen zu b_books, an einem Fachgeschäft für antideutsche Sachen vorbei, in das sie kurz ging, um kurz was zu fragen. Diese 36er-Gegend von Kreuzberg ist im Herbst zum Spazierengehen sehr gut geeignet. Bei b_books war’s supergemütlich, „Loslabern“ aber schon weg; so gingen wir zur NGBK. Ein Stapel war noch da, und irgendwie war es nett, an der Kasse zu zweit zu stehen, mit dem gleichen Buch in der Hand, die gleichen Sätze zu sagen; und mit dem Buch in der Hand weiter zu ziehen. Das Wetter war schön gewesen, schon etwas kalt und herbstlich; ich hatte den schön dicken, dunkelblauen Wollpullover an, den ein amerikanischer Filmemacher vor vielen Jahren einmal bei Dorothee vergessen hatte.

Den Sonntag verbrachte ich lesend und dachte an Heidi Paris, um deren Tod es ja auch im Buch geht. Weil ich es besprechen sollte, guckte ich mir das Konzert an, das Leonard Cohen 1970 auf dem Isle-Of-Wight-Festival gegeben hatte und musste beim letzten Stück automatisch heulen: „It seems so long ago, Nancy“. Dann war es Abend geworden, und der Himmel vor dem Fenster hatte in etwa so dunkelblau ausgesehen wie der Buchumschlag von „Loslabern“. Nur die Buchstaben fehlten. DETLEF KUHLBRODT