Die Broschüre liest er nicht

FREUNDSCHAFT Der Spielfilm „Host & Guest“ des koreanischen Regisseurs Shin Dong-il beobachtet seine Figuren mit großem Einfühlungsvermögen

Für Ho-jun (Kim Jae-rok), einen Filmdozenten, läuft es gerade nicht so gut: Er ist geschieden; das Sorgerecht für den Sohn fiel an seine Exfrau, Bewerbungen um eine Professur wurden abgewiesen. Am Anfang des wunderbaren koreanischen Films „Host & Guest“ von Shin Dong-il sieht man den frustrierten Intellektuellen in seiner kleinen Wohnung vor seinem Computer onanieren. Zwei junge Männer, Zeugen Jehovas, klingeln an der Tür und unterbrechen ihn. Er öffnet und beschimpft die beiden.

Später schließt er sich versehentlich in seinem Badezimmer ein. Nackt droht er zu verhungern. Einer der beiden Zeugen Jehovas, Gye-sang (Kang Ji-hwan), kommt vorbei, um wie jeden Tag das Wort Gottes zu verkünden, findet die Wohnungstür unabgeschlossen, rettet den Filmdozenten, bleibt bei ihm, päppelt ihn wieder auf. Ho-jun sagt, er würde alles tun, um ihm dafür zu danken; Gye-sang bittet ihn, eine seiner Broschüren zu lesen. Ho-jun antwortet, das sei das Einzige, was er nicht machen könne.

Die beiden Männer freunden sich an. Gemeinsame Unternehmungen gehen trotzdem schief: Der Kinobesuch endet damit, dass Ho-jun den Kinobetreiber fast verprügelt, am Ende einer gemeinsamen Trinkerei fühlt sich Gye-sang in seinen Gefühlen verletzt, weil der Filmdozent Animierdamen an den Tisch bittet; in einem Taxi verprügelt Ho-jun einen Bush-Anhänger (der Film spielt zur Zeit der zweiten Amtszeit des US-Präsidenten). Später besuchen die beiden Gye- sangs Mutter auf dem Land.

Shin Dong-il erzählt seine einfache, alltagspolitische Geschichte mit viel Wärme und Einfühlungsvermögen, im Geiste des Neorealismus und in eher langen Einstellungen. Sein Film ist still und unaufdringlich, ohne je langweilig zu sein. Obgleich das Setting teils recht unwahrscheinlich ist, wirkt alles realistisch und wahr, weil er seine Hauptfiguren mit einer zurückhaltenden Wärme beobachtet und diese Figuren so großartig gespielt und nicht auf Typen reduziert sind. Der Filmdozent ist ja nicht nur der intellektuelle, atheistische Loner mit asozialen Tendenzen, er ist auch nachtgewandt und arrogant und am Ende des Films ein verantwortungsvoller Freund, der Gye-sang bei dessen Gerichtsverhandlung wegen Kriegsdienstverweigerung beisteht.

Diese fast dokumentarisch gedrehte Szene ist einer der Höhepunkte des Films. In einer sehr berührenden Rede begründet Gye-sang seinen Pazifismus; wie mehr als 10.000 Koreaner nach dem Zweiten Weltkrieg wird er zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Ho-jun hält zu ihm, schickt ihm Bücher und besucht ihn. Er fragt seinen jungen Freund, ob er die Bücher gelesen habe. Der antwortet, sie hätten ihm sehr gut gefallen. „Hast du auch meine Broschüre gelesen?“ – „Nein“.

Über den schönen Satz, den Shin Dong-il seinem Film mit auf den Weg gab, lässt sich lange nachdenken: „Dank der Hilfe Gye-sangs findet Ho-jun wieder zu sich selbst: Er ist nicht länger nur Besucher in seinem eigenen Leben, sondern sowohl Gast als auch Gastgeber.“ DETLEF KUHLBRODT

■ „Host & Guest“. Regie: Shin Dong-il. Mit Kim Jae-rok, Kang Ji-hwan u. a. Republik Korea 2005, 92 Min., im fsk-Kino