In jedem Schuldner leuchtet ein Licht

KRISE Die Finanzkrise ist eine Vertrauenskrise, zeigt Alexander Kluges Filmessay „Früchte des Vertrauens“ mit Dirk Baecker, Helge Schneider und vielen anderen. In der Volksbühne zeigte Kluge eine Fassung „in Urinlänge“

Das Kino kam als Schnipsel zur Welt, so kurz, dass ein Immigrant in New York ohne Mühe folgen konnte

VON CRISTINA NORD

Ein Film soll drei Minuten dauern. Alexander Kluge steht vor der Leinwand der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz und erläutert, warum: Das Kino kam als Schnipsel zur Welt, so kurz, dass ein Arbeitsimmigrant in New York ohne Mühe folgen konnte, nebenher sein Bier trank, rauchte und im Saal umherspazierte. Film war ein Medium der Zerstreuung, nicht der Sammlung. Was zwei Stunden dauert, richtet sich an ein bürgerliches Publikum, das zum Stillsitzen erzogen wurde. Was länger als zwei Stunden dauert, sei, sagt Kluge, „der Urinlänge“ wegen ohnehin kritisch. Spannend werde es erst wieder bei zehn Stunden, bei der Länge also, die Kluges jüngstes Filmessay „Früchte des Vertrauens“ in Anspruch nimmt. Es ist vor wenigen Tagen als DVD-Edition bei Suhrkamp erschienen. Für den Abend in der Volksbühne hat Kluge aus den zehn Stunden drei Blöcke herausgelöst; in den kurzen Pausen stellt er sich auf die Bühne und erzählt, wer ihm mit Beiträgen geholfen hat: Christoph Hochhäusler zum Beispiel, Christian Petzold und Romuald Karmakar.

„Früchte des Vertrauens“ ist Kluges Versuch, die Finanzkrise zu erklären, oder besser: sie sich erklären zu lassen, etwa von der Schauspielerin Sophie Rois, die die kriminelle Energie ihres auf dem Schwarzmarkt handelnden Großonkels bewundert, vom Literaturwissenschaftler Joseph Vogl, der an den Anfang aller Finanzwirtschaft eine creatio ex nihilo, eine Schöpfung aus dem Nichts, setzt, vom Filmemacher Michael Haneke, der ein Märchen der Brüder Grimm vorträgt, in dem ein eigensinniges Kind noch nach seinem Tod den Arm aus dem Grab streckt, und immer wieder von Helge Schneider, dem Meister der verschleppten Pointe.

„Früchte des Vertrauens“ lässt sein Material und seine Motive in Interviews, Anekdoten, Sketchen, Schriftinserts und Theorien wuchern. Mit den Tatsachen, mit wirtschaftswissenschaftlicher Stichhaltigkeit geht das nicht durchweg d’accord, es ist aber fast immer charmant und verblüffend. Am Anfang flackert eine Kerze, und Schrifttafeln erläutern eine These Richard Sennetts. Die Beliebtheit evangelikaler Kirchen, argumentiert der Soziologe, rühre daher, dass Menschen, in dem Maße wie ihnen die Teilhabe an der Arbeitsgesellschaft verwehrt wird, ihr Selbstwertgefühl aus anderen Quellen beziehen, etwa aus der Hinwendung zu neuen Kirchen mit apokryphen Evangelien. Die wiedergeborenen Christen vertrauen darauf, dass ein Licht in ihnen leuchte, und dieses Vertrauen lässt sie den Verlust des Eigenheims überstehen.

Vertrauen ist denn auch der Schlüsselbegriff des Abends. Die Finanzkrise, sagt Kluge und sagen seine Interviewpartner, ist eine Vertrauenskrise. Über das Vertrauen, das gewährt oder entzogen wird, finden so unterschiedliche Dinge wie Schillers Gedicht „Die Bürgschaft“ und Dirk Baeckers Ausführungen über Risikokalkulation beim Abschließen eines Geschäfts Platz. Wann kann man einem potenziellen Geschäftspartner trauen? Wenn er ein Hasardeur und Spieler ist, so Baecker, ist das Risiko zu groß. Dasselbe gilt, wenn das Scheitern des gemeinsamen Geschäfts dem potenziellen Partner nicht weiter schadet – auch dann ist auf das Gegenüber kein Verlass.

Bei Schiller geht die Sache um ein Haar schief. Damon scheitert bei dem Versuch, den tyrannischen König zu töten, wird verhaftet und erwartet die Kreuzigung.

Eine Gnadenfrist von drei Tagen erbittet er sich, um seine Schwester zu verheiraten. An seiner Stelle bleibt sein bester Freund im Kerker des Königs – sollte Damon nicht zurückkehren, muss der Freund sterben. Tatsächlich schafft es Damon nicht rechtzeitig. Als er ans Stadttor von Syrakus schlägt, wird sein Freund gerade ans Kreuz gebunden. Doch was der Dolch nicht vermochte – den Tyrannen zu erweichen –, die Freundschaft schafft es. Gerührt von der Opferbereitschaft der Freunde gewährt ihnen der König Gnade und tut kund, in ihrem Bunde der dritte sein zu wollen.