Variationen über die Zeit

WEIT GEREIST Das Spielart-Festival München begann mit Theater aus Argentinien. Die Geschichte des Landes gilt als Kapital der oft nach Europa eingeladenen Künstler

Was jedoch Beatriz Catani mit ihrer sportiven Theaterschweißarbeit rund um eine sterbende Kakerlake anrichtet, ist wahrhaft exotisch

VON SABINE LEUCHT

Eine alte Frau sitzt am Klavier und spielt eine wehmütige Melodie. Das zum Dutt gewundene weiße Haar und der Faltenwurf ihres Kleides stammen aus einer anderen Zeit. Und während die Musik immer wieder von vorn beginnt, munter und traurig wie der Fluss des Lebens selbst, ist man emotional schon mitten im Stück. Sehr viel tiefer auf dessen Grund wird man in den 40 Minuten, die es schließlich dauert, allerdings nicht mehr sinken.

„Yo en el futuro“ („Ich in der Zukunft“) von Federico León heißt der dritte und letzte Beitrag zum Theaterland Argentinien, dem sich das Spielart-Festival in München in diesem Jahr widmet. Und man kann nur hoffen, dass die in München präsentierte Auswahl kein Best-of war, sondern ein Zufallsgriff in den kulturellen Humus einer üppigen Theaterszene in dem südamerikanischen Land. Mehr als 150 Aufführungen an einem Samstagabend in Buenos Aires, heißt es, seien keine Seltenheit. Und genug Stoff für Theatermacher sollte der politisch-wirtschaftliche Zusammenbruch des Landes 2001 auch aufgewirbelt haben. Wenn es den Kindern einer Militärdiktatur daran überhaupt mangeln kann.

Doch dass die Schauspieler, Regisseure und Autoren von heute die Nachkommen der Opfer und Täter der blutigen Jahre von 1976 bis 1983 sind, wird nur – und hier buchstäblich – bei Lola Arias’ „Mi vida después“ (Mein Leben danach) deutlich (vgl. taz vom 23. 9. 2009). Da meinen die herrenlosen Kleider, die anfangs auf die Bühne fallen, die 30.000 während der Zeit der Diktatur Verschwundenen. Aber auch die erzählten, angespielten und mit Originaldokumenten beglaubigten Geschichten, die singulär und privat sind, weisen zugleich über sich selbst hinaus.

Vom Sterbebett einer Kakerlake

Um Lola Arias aber soll es hier nicht gehen. Schließlich ist die 33-jährige Lebensgefährtin des Regisseurs Stefan Kaegi mit ihrem sinnlichen Halbdokumentartheater in Deutschland schon etabliert. Was jedoch Beatriz Catani, Jahrgang 1955, mit ihrer sportiven Theaterschweißarbeit rund um eine sterbende Kakerlake anrichtet, ist wahrhaft exotisch. Möglicherweise hat man in Catanis Heimat gelernt, zwischen gänzlich unmotivierten Fantasien und affektierten Leidensfiguren nach versteckten Botschaften zu fischen. Vielleicht leuchtet es argentinischen Zuschauern sofort ein, dass eine verzweifelte Sofa-Hopserin, eine Frau, die ihren Ball umklammert wie die letzte Boje vor dem offenen Meer, ebenso wie der Typ, der endlos wimmert und psalmodiert, nachhaltig lebensgefühlgeschädigte Opfer der Diktatur sein müssen.

In München jedenfalls ging die Lust auf solche Fragen mit der gesamten Aufführung baden. Die Kakerlake, von deren Sterbebett in „Finales“ minutiös berichtet wird, gilt dem Stück als „Wappenungeziefer des passiven Widerstands“, weil sie Eiszeiten und Sintfluten überlebt hat. Dass sie zuletzt an vier krampfhaft um Sichtbarkeit ringenden Menschen verendet, die jede schüchtern heranwehende Hoffnung in krude Katastrophenszenarien münden lassen, kann man ihr nicht verdenken.

Misstrauen gegen das Modell Repräsentation

Zapp- und Montagetechniken, situatives Erzählen und das Misstrauen gegen das Modell der Repräsentation gelten als charakteristisch für das jüngere argentinische Theater, das Beatriz Catani bereits bei den Wiener Festwochen 2001 und dem Festival Theater der Welt 2002 in Bonn vertrat. Der 35-jährige argentinische Film- und Theatermacher Federico León, der eine Aufführung schon einmal allein damit bestritt, eine Mutter und ein Kind weinen zu lassen, definiert den Zuschauer als jemanden, der dem Gesehenen keine Aussage entreißen, sondern einfach unmittelbar darauf reagieren soll.

Entsprechend ist Leóns „Yo en el futuro“ ein Vexierspiel, das im Kopf des Zuschauers vollendet wird. Die eingangs beschriebene alte Frau am Klavier präludiert eine Performance, in der sich zwei Frauen und ein Mann um die siebzig, dasselbe Personal in den Dreißigern und als Kinder (in München nur zwei) in unterschiedlichen Konstellationen vor einer Leinwand einfinden, auf der ein Film läuft, den die Alten als Kinder gedreht haben – für sich selbst in der Zukunft und ihre Enkel, die heute aussehen wie ihre Großeltern im Film, in dem manchmal Filme geschaut werden … Das Schönste in dem formvollendeten Gebilde ineinander verschachtelter Film-im-Film- und Menschen-vor-dem-Film-Bilder ist die Dramaturgie der Blicke: in Bilder hinein, aus Bildern heraus, auf die Anderen und damit auch auf die Stadien des eigenen Selbst.

Dennoch stellt sich die Frage, ob man für diese feierlich vorbeigleitende und rasch vergessene Petitesse ein ganzes Ensemble 12.000 Kilometer weit durch die Luft hätte schicken müssen. Die meditative Wirkung hätte die Dame am Klavier auch allein erzeugen können: Man spürt die Trauer über den Lauf der Zeit und das immerwährende, am Ende vielleicht sogar leichte Ineinandergreifen von Leben und Tod. Das ist mehr und viel besser als das, was Catanis sportive Starrkrämpfe auslösen.