Das Montagsinterview
„Dankbarkeit, dass du nicht weggehst“

Immer weniger Menschen sterben im Kreis der Familie – umso wichtiger werden Hospize, sagt Martina Kuhn
LUXUS ODER GRUNDBEDÜRFNIS Martina Kuhn hat in Hamburg die Koordinierungsstelle für Hospiz- und Palliativarbeit aufgebaut. Sie soll verbreiten, dass ein würdevolles Sterben für alle Schwerkranken möglich sein kann – auch für die Einsamen und Armen. Das scheitert immer häufiger an der Bürokratie

■ Von Hause aus Gymnasiallehrerin für Biologie und Sport, koordiniert sie die Hamburger Hospiz-und Palliativarbeit und hat zwischenzeitlich in der Personalentwicklung für ehrenamtliche Fach- und Führungskräfte gearbeitet. Kuhn hat die seit 2007 existierende Koordinierungsstelle für Hospiz- und Palliativarbeit aufgebaut. Finanziert wird ihre Stelle von der Hamburger Sozialbehörde.

INTERVIEW FRIEDERIKE GRÄFF

taz: Frau Kuhn, was bedeutet gutes Sterben?

Martina Kuhn: Ich denke, es geht um das Thema Würde. Darum, bis zum Schluss würdevoll zu leben, sicherlich auch würdevoll zu sterben – das gehört zusammen.

Würde ist ein weit interpretierbarer Begriff.

Es wird auch gefragt, ob er in der Hospizbewegung nicht überstrapaziert wird. Letztendlich glaube ich, dass es in erster Linie um die Bedürfnisse schwerstkranker Menschen geht. Darum, ihnen nicht Dinge aufzudrücken, die sie weder wollen noch können – sei es Essen oder Berührung, Medikamente oder Schläuche.

Dann gibt es also nicht nur ein Konzept vom guten Sterben.

Manche möchten in Ruhe gelassen werden, manche möchten, dass bis zu zwanzig Angehörige um sie herum stehen oder dass schon gefeiert wird, während sie noch leben. Es sollte heißen: „Pflegekräfte und Ärzte Hände auf den Rücken“, und erstmal schauen, was hier gewünscht ist. Und nicht alle eigenen Ideen davon, was würdevoll ist, an dem Patienten anzuwenden: ein Duftöl, eine Lymphdrainage und ein Gespräch – während die Menschen innerlich sagen: „Lass’ mich bitte in Ruhe.“

Wahrscheinlich ist dieses Nichts-Wollen nicht ganz einfach – gerade für diejenigen, die sagen: „Ich gebe mir so viel Mühe.“

Wir erleben das bei professionellen Kräften, aber auch bei Ehrenamtlichen, die eine Ausbildung zur Sterbegleitung machen. Die sind sehr engagiert, sehr motiviert, die wollen über das Sterben sprechen. Aber die Menschen sagen: „Lies’ mir aus der Zeitung vor. Ich habe noch eine Woche, da will ich wissen, was läuft.“

Also heißt es Demut lernen.

Genau. Das ist eine Haltung, die nicht so beliebt ist. Aber wer das gelernt hat, genießt auch, was dann kommt: Es kommt viel, und sei es ein großes Maß an Dankbarkeit, dass du nicht weggehst, dass du keine Angst hast, dich nicht ekelst.

Ist die Hospizbewegung Spiegel einer Gesellschaft, wo all das nicht mehr selbstverständlich ist – zumindest nicht von Seiten der Familie?

Es versterben immer mehr Menschen ohne den Kreis ihrer Familie. Viele wohnen alleine, kommen alleine in ein Heim, werden alleine ins Krankenhaus eingewiesen. Da kommen auch nicht unbedingt die Freunde. Manchmal gibt es noch Nachbarn. Aber oft sind auch Familien mit Sterbenden völlig überfordert: Sie haben keinerlei Erfahrungen damit.

Wie sind Sie selbst zur Hospizarbeit gekommen?

Eine gute Freundin von mir ist im Krankenhaus an Krebs gestorben. Wir haben sie zurück nach Hause geholt und in der Wohnung aufgebahrt. Das war für mich zum ersten Mal eine Begegnung, die ganz anders war. Ich dachte: „Das ist ja wunderbar.“ Wer mochte, konnte zu ihr gehen und es waren auch die Kinder da. Die durften auch in den Körper reindrücken und sagen: „Guck’ mal, da bleibt eine Delle.“ Oder: „Sie ist ganz kalt.“ Es sind viele gekommen. Wir haben im Nebenraum angestoßen, weil sie das so gewollt hätte.

Kommen ins Hospiz nur die Gutinformierten, die keine Angst vor möglichen Kosten haben?

Nein, auch Hartz IV-Empfänger sind in Hospizen. Es gibt inzwischen auch gar keinen Eigenanteil für die Patienten mehr. Daneben hängt es von einer generellen Informiertheit ab, nicht nur der Betroffenen, sondern auch der Sozialdienste in den Krankenhäusern und der Medizinerinnen und Mediziner.

Dennoch ist das Hospiz mit der Idee von Mittelschicht verbunden.

Man kann auf keinen Fall sagen, dass nur die intellektuelle Mittelschicht in diese Einrichtungen kommt. Trotzdem ist es wohl so, dass Menschen, die im Osten der Stadt leben, weniger in den Genuss kommen als Menschen aus dem Westen. Es gibt Menschen, die hier anrufen und sagen: „Ich möchte mich schon einmal für das Hospiz anmelden.“ Die sind noch topfit und denken: „Sollte es mir einmal schlecht gehen, will ich das alles in trockenen Tüchern haben.“

Transportiert die Hospizbewegung da eine Allmachtsphantasie vom guten Sterben?

Das Hospiz ist kein Gebäude, in das Leute hineingehen. Es ist eine Bürgerbewegung. Und die ist entstanden, weil Menschen vor 20, 30 Jahren gesagt haben: „So möchte ich nicht enden.“ Früher hat man die Menschen zum Sterben nach Hause geholt, dann sind sie in der Küche gebettet worden, alle sind gekommen, jeden Tag war jemand da. Es war mitten im Leben. Das wollte man wiederbeleben – es ging nicht darum, zu sagen: „Wir machen das besonders schön.“ Vielleicht wirkt das nach außen so, wenn man es damit vergleicht, wie es zwischenzeitlich war und vielleicht immer noch passiert: dass Menschen, die im Krankenhaus sterben, ins Badezimmer oder den Geräteraum abgeschoben werden, weil es keinen anderen Platz gibt.

Nach einer Studie des Gerichtsmediziners Püschel zu Todesfällen in Hamburg und Umgebung sterben nur vier Prozent im Hospiz.

Das entspricht etwa dem Prozentsatz an Sterbenden, die die Voraussetzungen erfüllen. Nach wie vor haben aber auch einige das Gefühl, das sei ein Sterbehaus. Das mag auf eine Art auch so stimmen – natürlich sterben die Menschen dort. Aber es ist nicht so wie im Mittelalter, wo die Menschen in Zehnerreihen zum Sterben abgeschoben wurden. Grundsätzlich ist das Bedürfnis, das Leben würdevoll zu beenden, auf jeden Fall größer als die vier Prozent. Viele wissen nicht, dass es auch eine ambulante Hospizbegleitung gibt.

Zurzeit sind nicht alle Hospize ausgelastet.

Die Auslastung ist okay, aber nicht optimal. Das liegt an den Zugangsvoraussetzungen. Viele wissen nicht, dass man dazu eine ärztliche Bescheinigung über den Krankheitszustand braucht. Ich sage zu vielen: „Das, was Sie in ein Hospiz bringt, das möchten Sie gar nicht haben“ – mehrere Krankheiten gleichzeitig, ein schweres Tumorleiden oder Wunden, die aus dem Körper quellen. Das wäre anders, wenn man sagte: „Hospize sind für alle da, auch für die, die einfach nur alt sind und nichts weiter haben.“

Woran hakt das?

Die finanzielle Situation spielt natürlich eine Rolle. Ein stationärer Hospizplatz ist nicht die günstigste Versorgung, er ist deutlich teurer als ein Pflegeheimplatz. Die Probleme sehe ich zur Zeit aber woanders.

Wo denn?

Dass die Hospize teilweise nicht ausgelastet sind, hängt nicht nur mit den medizinischen Voraussetzungen zusammen, sondern auch mit dem medizinischen Dienst. Zunehmend empfiehlt er den Krankenkassen eine Ablehnung von Hospizanträgen, obwohl die Menschen mit ihren Krankheiten und ihrer häuslichen Situation die Voraussetzungen erfüllen. Es ist eine schlimme Zumutung, wenn Menschen in ihren letzten Wochen noch ein Widerspruchsverfahren über sich ergehen lassen müssen, um zu klären, ob sie schon hospizbedürftig sind oder nicht.

Will der medizinische Dienst Geld sparen?

Das vermute ich.

Wie hoch ist die Ablehnungsquote?

Die liegt zwischen 20 und 25 Prozent bei den Gästen, die bereits aufgenommen wurden – bis vor zwei, drei Jahren waren das maximal fünf Prozent, wenn es überhaupt zu Ablehnungen kam. Wenn ein Hospiz mit seiner Fachkompetenz gesagt hat, das sei ein Hospizpatient, dann ist das auch so angenommen worden. Das hat sich massiv verschlechtert. Bei einem Viertel muss man in den Widerspruch gehen. Am Ende ist fast jeder Widerspruch erfolgreich – aber was ist das für eine Zumutung für die Angehörigen und die Betroffenen selber in dieser letzten Lebens-Zeit.