Mörder schlafen als Letzte ein

BESSER ALS ZU HAUSE Die Dokumentation „Allein in vier Wänden“ von Alexandra Westmeier porträtiert Insassen einer russischen Jugendstrafanstalt

Ein Junge erzählt von Albträumen: wie er mit seinem Vater spricht, der von einer Axt gespalten ist

Ein Heim für jugendliche Straftäter im Ural: 120 Jungs zwischen 11 und 15 Jahren sitzen hier ein. Sie haben geklaut, geschlagen, vergewaltigt. Ein Zehntel der Kinder wurde wegen Mordes oder Totschlags verurteilt. Der Dokumentarfilm „Allein in vier Wänden“ von Alexandra Westmeier nähert sich ihnen.

Wie in jedem Heim, in jedem Gefängnis und jeder Entzugsanstalt ist der Alltag der Insassen sehr reglementiert, geht es doch darum, ihnen Disziplin beizubringen, auf dass sie sich später besser im Griff haben. Man sieht, wie die Kinder am frühen Morgen in Boxershorts zum Sportplatz laufen, später gehen sie in die Schule, falten Kartons, räumen auf und wischen die Zimmer. Abends um neun müssen sie schlafen.

Kommentarlos, in atmosphärisch dichten Bildern zeigt der Film die Einrichtung des Heims. Manche Szenen wirken fast idyllisch. Wenn die Kamera im Schlafraum verweilt, wenn ein bisschen Sonne durch die Fenster fällt am Morgen.

Die Jungen erzählen, was sie getan haben. Manches ist zunächst verwirrend, etwa wenn einer sagt, statt zu lernen, habe er Klebstoff geschnüffelt und geklaut und dafür drei Jahre bekommen. Ein anderer wiederum berichtet, er habe die gleiche Strafe bekommen – wegen eines dreifachen Mordes.

Ein Mörder sagt, er komme gut mit Dieben zurecht. Mörder dagegen möge er nicht so gern. Deshalb könne er auch die gut verstehen, die abweisend auf ihn reagieren. Mörder würden immer versuchen, als Letzte einzuschlafen, aus Angst davor, dass ihnen jemand etwas tut. Ein anderer Junge erzählt von furchtbaren Albträumen; wie er mit seinem Vater spricht, der in der Mitte von einer Axt gespalten ist; wieder ein anderer sagt, er wolle seiner Mutter nicht schreiben, er sei böse auf sie, „weil sie Großmutter erschlagen hat“.

Die Verhältnisse, aus denen die Kinder kommen, sind schwierig, geprägt von Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, Gewalt und Verwahrlosung. Die Kinder und Jugendlichen scheinen sich nach einer Phase des Trotzes in dem geordneten Alltag des Heims durchaus wohlzufühlen: „Hier ist es besser als zu Hause, weil einen hier keiner schlägt und beschimpft.“

In der letzten Szene des Films singen die Kinder ein Lied, das von der Tapferkeit russischer Jungen handelt. Dann kommt ein Schriftinsert. 91 Prozent dieser Kinder landen später im Gefängnis für Erwachsene, weil es keine Nachbetreuung gibt und sie nach der Haft wieder in dieselben Verhältnisse zurückkehren, aus denen sie kamen. Als Zuschauer fühlt man sich manchmal wie ein Voyeur, vielleicht weil man die Kinder und ihre Geschichten durcheinanderbringt, weil die Gesichter der Kinder fast durchgehend leinwandfüllend sind, weil die Regisseurin auf Kommentare verzichtet und es keinen Ausweg zu geben scheint.

Sechs Jahre habe es gedauert, bis sie eine Drehgenehmigung für ihren Film bekommen habe, erzählt Alexandra Westmeier, die aus dem Ort stammt, in dem sich auch das Heim befindet. Dann habe sie jedoch ungehindert drehen dürfen. Der Film sei nicht geschönt; die meisten Kinder verhielten sich tatsächlich diszipliniert, weil sie wissen, dass sie nach einem Regelverstoß sofort ins Gefängnis für Erwachsene kommen würden.

DETLEF KUHLBRODT

■ „Allein in vier Wänden“. Regie: Alexandra Westmeier. Dokumentarfilm, Deutschland 2007, 82 Min., im fsk-Kino