Dudweilers weite Horizonte

ESSAYS Der Journalist Nils Minkmar macht sich auf, die veränderte Normalität zu durchleuchten: „Mit dem Kopf durch die Welt“

Vom Großvater kam beneidenswert viel Erdung in den basalen Freuden des Lebens

VON DIRK KNIPPHALS

Sitzt ein junger Mann auf einer Zapfsäule und holt sich einen runter. Kommt eine ältere Dame vorbei und fragt entrüstet: Na, ist das noch normal? Sagt der junge Mann fröhlich: Ne, das ist super!

Dieser Witz fällt mir öfter ein, wenn ich mit so einem pathetischen Timbre in der Stimme vom Normalen reden höre (zugegeben, ich wollte ihn schon länger mal irgendwo unterbringen). Aber eigentlich wollte ich diese Besprechung von Nils Minkmars Buch „Mit dem Kopf durch die Welt“ ganz anders beginnen. Damit, dass der Essay doch eine gute Form darstellt, um sich in unserer unübersichtlich gewordenen Normalität voranzutasten. Dass man in ihm ungewohnte Gegenstände zusammenbringen kann und Beobachtungsperspektiven ausprobieren – Versuche schreiben halt. Und damit, dass diese Form zuletzt ein wenig gelitten hat. Was zum Beispiel im Spiegel unter Essay steht, sind meist nur ums Ichsagen literarisch aufgehübschte Leitartikel, stets um fünf vor zwölf geschrieben. Und bei den Essays im Zeit-Feuilleton wusste man zuletzt immer schon, was rauskommt – auf irgendeine Form von Neoliberalismuskritik lief es immer heraus.

Es fehlt also hier und da das Spielerische. Insofern freut man sich, wenn sich mal wieder ein Autor aufmacht, die Form des Essays ein bisschen zu erneuern – und damit in der Öffentlichkeit sogar durchkommt. Bei Nils Minkmar ist das so. Ironiebegabt. Reisefreudig. 42. Feuilletonredakteur bei der FAS. Journalistenpreise. Und nun hat der Fischer-Verlag (wofür er zu loben ist) das alles nobilitiert, indem er gut 200 Seiten Hardcover mit Lesezeichen zur Verfügung stellte. Einige Minkmar-Texte, die man schon aus der FAS kannte, und eine Menge Texte, die man noch nicht kannte, sind darin zu größeren essayistischen Einheiten zusammengepackt.

„Personal essays“ nennt Nils Minkmar selbst diese Texte oder „ganz persönliche Geschichten aus der Normalität“. In Wirklichkeit sind es genausogut Versuche, den Essay mit den Mitteln des Features und der Reportage zu erneuern. Wie Minkmar vorgeht, kann man gut am Abschnitt „Die Götter von Dudweiler“ sehen. Um den Islamismus zu verstehen, reist er eben nicht nach Afghanistan oder sonst wo hin, wo die harten Medienbilder herkommen. Aber als aus seiner Heimatstadt, dem saarländischen Dudweiler, gemeldet wird, dass in ihr dieser Daniel gewohnt hat, ein Mitglied der tief in den militanten Islamismus hineingeratenen Sauerlandgruppe, setzt sich Minkmar in den Zug.

Er durchstreift seinen Heimatort, kriegt nicht viel raus, nimmt aber mit, dass die Normalität erklärungsbedürftig geworden ist – ausgehend von dieser Irritation startet er allerlei Suchbewegungen. Er holt die Sekundärliteratur über Islamismus ein, erzählt seine persönliche Geschichte von 9/11, trifft so gegensätzliche Figuren wie Tariq Ramadan und Ayaan Hirsi Ali. Aus solchen Recherchen setzt sich dann ein Mosaik zusammen. Die Stimme des Erzählers wirkt dabei wie die Stimme eines durchaus im Zweifel linksliberal gefärbten, grundsoliden Menschenverstandes, der sich von großen Thesen nicht so leicht beeindrucken lässt und bedächtig alle Seiten der Normalität betrachtet.

Endlich wieder ein Autor, der daran arbeitet, die Form des Essays ein bisschen zu erneuern

Getragen wird das alles von einem Urvertrauen in pragmatische Vernunft. An einer Stelle heißt es über den Islamismus: „Die Veränderungen können nur von innen erfolgen, aber sie werden erfolgen.“ An einer anderen: „Dass Muslime den Tod mehr lieben als das Leben, sollte man den Terrorpropagandisten nicht abnehmen.“ Von seinem französischen Großvater, der das Essen sehr liebte und dem der erste, schönste, da persönlichste Essay des Bandes gewidmet ist, hat Nils Minkmar offenbar beneidenswert viel Erdung in den basalen Freuden des Lebens mitbekommen, und im Grunde kann er sich nicht recht vorstellen, dass das bei anderen Menschen anders sein könnte.

Andere Essays widmen sich der Politik – beginnend mit hübsch ätzender Ironie im Rahmen solcher Politikspektakel wie der G-8-Inszenierung von Heiligendamm, um schließlich bei den jungmännerhaften Asta-Scharmützeln während der Studentenzeit zu landen. Und sie widmen sich zum Beispiel auch der Spezies des Mannes, die zu studieren Nils Minkmar während seiner vielen Zugfahrten ausgiebig Gelegenheit hat. Man kann sagen: Während die Darstellung der sich rapide verändernden Normalität auf der Metaebene ziemlich abstrakt bleibt („Die Frauenbewegung, die Desindustrialisierung, der Massenkonsum sowie der völlige Kursverfall des Militärs, der Kirche und des Vaterlandes“), liefern die Essays einem immer viele Erkenntnisse, sobald sie konkret werden. Der Abschnitt über Politik enthält etwa eine Dekonstruktion Oskar Lafontaines, die sich gewaschen hat

An dem Politik-Essay kann man auch einen konservativen Zug im Denken Nils Minkmars erkennen. Vollends zeigt er sich beim Abschluss-Essay über die Unbill des Umziehens: Ein Motiv von „Schuster bleib bei deinen Leisten“ durchzieht heimlich das Buch, ein Setzen auf gewachsene Umgebungen und eine Grundskepsis gegen alles, was den eigenen Horizont übersteigt – zum Glück ist dieser Horizont bei diesem Autor sehr weit.

■Nils Minkmar: „Mit dem Kopf durch die Welt“. Fischer, Frankfurt a. M. 2009, 224 Seiten, 17,95 Euro