DEN STROM DER WESERSTRASSE HINABTREIBEN
: Gott sei Dank steht am nächsten Tag Kultur auf dem Plan

VON SONJA VOGEL

Besuch von außerhalb bestelle ich regelmäßig ins Silverfuture. Gewissermaßen als Gesinnungstest. In Berlin-Mitte, Tirana und Prag ist Berlin-Neukölln darum geliebt oder gehasst. Mein alter Freund aber zeigt sich unbeeindruckt von der rosa Fahne, die eine muskulöse Lady im knappen Superman(woman?)kostüm zeigt, dessen Beinausschnitt von wildem Schamhaar gesäumt ist. Also ziehen wir weiter.

Langsam lassen wir uns vom Strom die Weserstraße hinabtreiben. Vorbei am Späti unweit der Rütli-Schule, der jetzt „Späti international“ heißt und neben der üblichen Auslage unter Neonlicht ein Separée mit Sitzgelegenheit bietet. Geschmacklos. Gentrifiziert. Hier trifft sich eine Erasmus-Estrada, die auf falsch verstandenen Minimalismus schwört: Sternburger-Export und keine Toilette.

Vorbei geht es an einem Dutzend Bars, deren kahle Betonwände man mit weißem Sitzmobiliar aufgehübscht hat. Wir entscheiden uns für eine namenlose Bar. Draußen sitzt man auf den eisernen Gemüseständern der Vorbesitzer. Drinnen belehrt uns ein älterer Herr: „Hier müsst ihr Ratzeputz trinken, der Laden heißt so.“ Ratzeputz also. Wir weigern uns, für ein Getränk mit diesem Namen zu bezahlen. Und tatsächlich sucht uns der junge Barmann später auf. Pflichtbewusst würgen wir Ratzeputz (ein scheußliches Gebräu mit Ingwergeschmack) hinunter. Zum nächsten Schnaps lassen wir uns aufgrund seines (vermutlich falsch verstandenen) Namens überreden: „Heidegger“. Ein netter Name für eine wirklich furchtbare Sache. Der Soundtrack hierzu: Britney Spears, Dr. Alban, Modern Talking.

Zu den Backstreet Boys besteigt die Barbesatzung die Theke. Ich bekomme eine Flasche Wodka-Himbeer zugeschoben: Nineties-Fitting bestanden! Also johle auch ich für einen jungen Tabledancer, der seinen Oberkörper zeigt. Und einen, der seinen Bauch entblößt: Verboten! Und da ist schon die Polizei. Auch mein Begleiter, der verschwand, als ich mir „Coco Jambo“ von Mr. President wünschte, kommt zurück, um mich abzuholen.

Gott sei Dank steht am nächsten Tag Kultur auf dem Plan, denn ich habe die Klickzahlen von Scooter und Aqua auf Youtube um ein Vielfaches erhöht. Schon lohnt es sich nicht mehr, auf das Fest der Kleinen Verlage an den Wannsee zu fahren. Dass das Wetter die Veranstaltung ins Haus zwang, wie ich telefonisch eruieren konnte, liefert mir ein Alibi. (Trotzdem soll es schön gewesen sein!)

Ich fahre direkt ins Haus der Kulturen der Welt, wo im Rahmen des Wassermusik-Festivals KAL auftritt. Vermutlich wurden sie eingeladen, weil sie aus Belgrad kommen. Belgrad liegt an der Donau. Und die Donau – na? – führt Wasser.

KAL spielen in klassischer Rockband-Besetzung, aufgemotzt mit Geige und Akkordeon. Einspieler mit Elektobeats unterstützen den abgehackten Rhythmus des Akkordeons. Man hat den Eindruck, die Band mache sich über ihr Publikum lustig, das sie nicht ganz zu Unrecht den Folklore-Jüngern zurechnen. Erst preisen sie den Valjevo-Boogie an, einen Boogie, der angeblich aus dem serbischen Valjevo stamme: „Very very traditional!“ Ein Volkslied spielen sie in gelungenen Surf-Version (hallo, Wassermusik!). Ansonsten bewegt man sich zwischen Rock, Punk und Elektro: Turbofolk post mortem!

Den Folklore-Jüngern gefällt es: Ein muskelbepackter Mann dreht Pirouetten, eine Dame mittleren Alters zieht die Schuhe aus, um besser stampfen zu können, und vorne pogen Punks. Vor Jahren sah ich KAL in einem Belgrader Kellerclub. Es hatte um die 45 Grad und ständig mussten die, die in Ohnmacht fielen, hinausgetragen werden. Aber alle kamen zurück, das Konzert war grandios – schnell, laut und dreckig. Hier gehe ich erst, nachdem ich meinen Plastikbecher abgegeben habe. Das Pfandgeld reichte locker für ein Bier to go aus dem Späti international. Sternburger-Export natürlich.