Grau ist irgendwie gelb

SEHEN Wie Farbenblinde sehen zeigt Sofie Thorsen in der Ausstellung „Lechtend Grau“. Ihr Material fand sie auf der Insel Fur, deren Bewohner von einer über Generationen vererbten Farbenblindheit betroffen waren

Farbenblinde haben gelernt, dass die oberste Leuchte der Verkehrsampel rot ist

Etwa 3.000 Menschen sollen in Deutschland an völliger Farbenblindheit, der Achromatopsie, leiden. Dieser genetische Defekt, zwingt das Auge, im konstanten Nachtmodus zu arbeiten. Die Achromatopsie bedingt über die Farbenblindheit hinaus eine schlechte Sehschärfe, Fixationsprobleme und eine Überempfindlichkeit gegen helles Licht. Was und wie sehen Menschen unter dieser vollkommenen Abwesenheit der Farbe? Und welche (kulturtechnischen) Kompensationen greifen, um dennoch Farben empfinden, über Farben kommunizieren zu können?

Die dänische Künstlerin Sofie Thorsen zeigt derzeit im Kunstverein Langenhagen einen Film und Fotoserien, die Annäherungen an die speziellen Wahrnehmungsformen unter Achromatopsie darstellen. Thorsen fand ihr Material auf der dänischen Insel Fur, deren 1.000-Seelen-Population bis in die 1930er Jahre von einer über Generationen vererbten Farbenblindheit betroffen war. Thorsen lebt zwar in Wien, ist aber auf einer Nachbarinsel aufgewachsen. Sie weiß aus Erzählungen und von Besuchen auf Fur über die Krankheit.

Dort traf sie im Jahr 2009 auch den letzten mit der Krankheit geborenen Bewohner, einen älteren Herrn. Nach Interviews mit weiteren Betroffenen entstand mit einem Filmteam der Schwarzweiß-Film „Achromatic Island“. Er zeigt Bildfolgen der Insel in beirrender Diffusität und fehlender Tiefenschärfe, durch die analoge Aufnahmetechnik in High Definition-Qualität aber auch ein Spektrum von intensiven, leuchtenden Grauschattierungen, die eine zeitgenössische, an farbigen Digitalbildern trainierte Rezeption um eine unbekannte Erfahrung erweitert. Mit dem Stand der Filmtechnik von vor fünf Jahren wären Bilder mit diesen feinen Nuancierungen nicht möglich gewesen, so Thorsen. Und da sie das Ergebnis von 2009 noch nicht als „fertig“ empfand, hat sie das Material für die Ausstellung neu geschnitten und mit deutschen Untertiteln aus den Gesprächen versehen.

Den komplexen Erzählstrang über die Insel Fur ergänzend zeigt Thorsen Landschaftsbilder, die sie mit einer russischen Lomo mit neun kleinen Objektivlinsen aufgenommen hat. Thorsen setzt die Lomo mit körnig schwarzweißem Film und Fotopapier für Situationsbilder ein und erzielt so anmutende Resultate. Die Mosaikeffekte folgen eben nicht wie digitale Pixel einem sturen quadratischen Schema sondern geben immer wieder kleine, versetzte Teile des Gesamtbildes wie in einer leicht bewegten Abfolge wieder. Natürlich sind diese Schwarzweiß-Sichten künstlerische Äquivalente oder allenfalls Hypothesen für eine mögliche Wahrnehmung unter Achromatopsie, da diese schlechterdings nicht objektivierbar ist. Sie stellen aber auch unsere plumpe Bildgläubigkeit in Zeiten digitaler (Nach)-Bearbeitungen in Frage und beschwören eine vergessene Qualität historischer Schwarzweiß-Fotografien. Denn ähnlich, wie beim Betrachten dieser Fotos eine mitunter viel farbigere Welt im Kopf des Betrachters entsteht, scheinen die Farbenblinden ihre Wahrnehmung gleichfalls nicht als monochrom zu empfinden. Sie haben nicht nur rational gelernt, dass die oberste Leuchte der Verkehrsampel rot ist. „Ich sehe nicht schwarzweiß“, lautet auch ein Kommentar eines Farbenblinden in Thorsens Protokollen. Denn atmosphärisch imaginiert wird die Flora im Vordergrund einer Landschaft als „irgendwie gelb“ beschrieben.BETTINA MARIA BROSOWSKY

bis 6. Februar