Eine Frau steigt aus

VERWEIGERUNG In „Villa Amalia“ von Benoît Jacquot spielt Isabelle Huppert eine Frau, die sich von den Zwängen ihres Alltags freimacht

VON GASTON KIRSCHE

Eine regnerische Nacht auf der Autobahn irgendwo auf der Île-de-France rund um Paris. Eine Frau folgt ihrem Mann im Auto, sieht, wie er eine andere innig umarmt. Im Auto wird sie später schreien, alleine, für sich. Ab diesem Moment stellt sie alles in Frage. Sie ist die erfolgreiche Komponistin und Pianistin Ann Hidden (Isabelle Huppert). Zurück in ihrem Appartement sind ihre Lippen schmal, als sie ihrem Mann Thomas (Xavier Beauvois) eröffnet, dass es aus sei. Nach 15 Jahren, einfach so, fragt er perplex. Ja, einfach so, antwortet sie ihm klar. Er versucht sie zurückzugewinnen, wirkt angesichts ihrer Entschlossenheit und Klarheit aber ebenso grau und hanswurstig wie sein grauer Anzug. Am nächsten Tag arbeitet sie weiter am Klavier. Sie spielt einen disharmonischen Dialog, der fast wie zwei streitende Stimmen wirkt. In einem menschenleeren Saal übt sie auf einem Klavier.

Ein Bild der Einsamkeit. Am Abend spielt sie vor vollem Saal. Eine schöne Melange aus neuer und alter Musik. Mitten im Konzert steht sie auf, geht hinaus. Ich höre auf, erklärt sie ihrem Manager. Und die Tournee? Die Aufnahmen? Nein, Nein. Ann Hidden beschließt, nicht mehr zu funktionieren. Durch die Untreue ihres Mannes ausgelöst, will sie raus aus ihrer Art zu Leben. Nach und nach löst sie ihre Verbindungen. Sie ist so alt wie Isabelle Huppert, etwa Mitte fünfzig. Da hat sich einiges an materiellen Dingen angesammelt, die sie nun ebenso systematisch wie bedenkenlos abstößt. Ihr großzügiges Appartement mit Marmorböden verkauft sie. Ein beflissener Makler macht sie darauf aufmerksam, dass sie einen geringeren Verkaufserlös erzielt, wenn sie übereilt verkauft. Aber ihr Entschluss steht fest. Als ihr Mann sie von seiner Arbeitsreise nach London ständig versucht anzurufen, meldet sie das Telefon ab. Fotos verbrennt sie. In einen großen Müllsack nach dem nächsten entleert sie ihre Schränke. Am Abend, bevor ihre Klaviere und ihr Flügel abtransportiert werden, bespielt sie sie ein letztes Mal. Alle Menschen, mit denen sie zu tun hat, erledigen etwas für sie. Dienstleistung statt Freundschaft. Schluss damit. Eine Fahrt in die Bretagne, zur Mutter, ein Abend mit den Freundinnen von früher. Ihnen spielt sie ihre Unruhe auf einem Klavier vor. Und lächelt zufrieden. Am Morgen eine Umarmung der gebrechlichen Mutter, ein Abschied. Sie verschweigt ihr wie allen, dass sie aus allem aussteigt. Nur ihr alter Jugendfreund Georges (Jean-Hugues Anglade) ist eingeweiht. Sie traf ihn zufällig auf der Straße, niemand sonst weiß von ihrer Verbindung. Dass gefällt Ann. So kann sie bei George Geld deponieren auf dessen Konto. Als George sie umarmt und zu küssen versucht, stößt sie ihn zurück. Sie will keine Liebesbeziehung. Ihr eigenes Bankkonto löst sie auf, ihr Mobiltelefon schmeißt sie weg. Sie will nicht gefunden werden können. Und raus. Die Farben im Film ändern sich. Je weiter sie sich vom regnerischen Nordfrankreich entfernt, desto heller und satter werden die Farben. Sie fährt mit dem Bus durch Österreich, in die Alpen. Neben einer Berghütte geht sie zu einem Mann, der nur von hinten zu sehen ist.

Morgens wacht sie neben ihm auf, bricht auf. Er ist nicht wichtig. Der ganze Film ist auf angenehme Weise nicht sexualisiert, das Darbieten und Taxieren von Körperlichkeit spielt keine Rolle. Nicht bewertet werden. Isabelle Huppert zeigt mit ihrer großartigen, zurückgenommenen Mimik die Selbstverständlichkeit einer Frau, die endlich etwas für sich tun will.

Zu Fuß überquert sie die Alpen, symbolträchtig überwindet sie aus eigener Kraft das Gebirge. An der neapolitanischen Küste entdeckt sie beim Schwimmen ein einzelnes, kleines Haus am Hang. Der Blick aufs Meer ist wunderschön. Es ist die Villa Amalia, die einer alten Bäuerin gehört. Die schreit Ann an, sie solle sie in Ruhe lassen. Als Ann zurückschreit, sie wolle aber dieses kleine Haus, verstehen sich die beiden. Die alte Bäuerin erlaubt ihr dort zu leben. Benoît Jacquots Verfilmung des Romans „Villa Amalia“ von Pascal Quignard ist die Geschichte einer Befreiung daraus, einsam zu funktionieren.

■ Do, 2. 6. - Mo, 6. 6., 16 Uhr / Mo., 13. 6., 16.15 Uhr / Mi 15. 6., 16 Uhr, 3001, Schanzenstraße 75