Raum ohne Angst

THEATER-FESTIVAL Sprungbrett, Messe und Forum: Auf dem Hamburger Kaltstart-Festival präsentieren sich bis Anfang Juli junge Schauspieler, Dramaturgen, Autoren und Regisseure in rund 80 Produktionen

Nicht nur Präsentationsort, sondern auch Werkstatt soll das Festival sein

VON ROBERT MATTHIES

„Schluss mit der Lethargie und der Angst.“ Ganz und gar nicht schüchtern haben Florian Hänsel, Eva Baumeister und Gero Vierhuff vor fünf Jahren die Fenster zum Kulturhaus 73 im Hamburger Schanzenviertel weit aufgerissen, um den Theater-Muff heraus- und frische Schauspiel-Luft und ein ganz neues Publikum hereinzulassen. Unkonventioneller und spontaner als die herkömmlichen Bühnen wollten die drei SchauspielerInnen und RegisseurInnen Schauspiel, Tanz, Pantomime, Performance, zeitgenössische Dramatik, Hörspiel und Musik präsentieren – eine neue Spielzeit „nach der Spielzeit“.

Neun Forderungen haben sie sich selbst gestellt, damit ihr Kaltstart-Festival mehr als ein Paar „Wir-sind-geil-und-spielen-hier-und-hauen-wieder-ab-Veranstaltungen“ bietet: freie und schon etablierte TheatermacherInnen wollten sie vernetzen, Räume ohne Konkurrenz öffnen, jenseits von Zwängen und Establishment ein Forum für den gegenseitigen Austausch schaffen und zeigen, dass man auch ohne viel Geld gute Kunst machen kann. Nicht nur Präsentationsort, sondern auch Werkstatt sollte das Festival sein, eine Plattform, auf der sich die junge Theaterszene ohne Auszeichnungen präsentieren kann, bei der über Inhalte und Form diskutiert und gestritten werden kann und jeder eine Bühne bekommt, „für den ‚Intensität‘ und ‚Wille‘ keine Fremdwörter sind“. Vier Tage lang gab es auf insgesamt 19 Veranstaltungen zwischen Kleists „Käthchen von Heilbronn“ und Tschechows „Die Vaterlosen“ auch getanzte Gedichte von Fernando Pessoa, Theater-Hip-Hop oder szenische Lesungen bislang unaufgeführter Stücke zu entdecken.

Der Theaternachwuchs von Hamburg bis Halle hat die Einladung zur Vernetzung jenseits von Konkurrenzdruck, Preisverleihungsstress und Pressehype dankbar angenommen. 2007 konnte man, organisiert vom neu gegründeten gemeinnützigen Verein, eine ganze Woche lang schon doppelt so viel frische Theaterluft schnappen. Zum ersten Mal haben RegieassistentInnen, Studierende und SchauspielerInnen dabei auch im „Werkraum“ gemeinsam neue Stücke erarbeitet: In jeweils 20-minütigen Szenen konnten sie sich im Rahmen des Festivals nach Lust und Laune ausprobieren.

Seitdem ist das Festival beständig expandiert: neue Spielorte sind dazugekommen, im letzten Jahr haben sich unter dem Dach von Kaltstart vier bislang eigenständige Nachwuchsfestivals zum spartenübergreifenden Theatertreffen zusammengeschlossen: dazugestoßen sind das Finale-Festival, das Abschlussproduktionen der Theaterakademie Hamburg präsentiert, das Fringe-Festival für innovatives Off-Theater und temporäre künstlerische Interventionen an ungewöhnlichen Orten, und das Jugendtheater-Festival Youngstar. Aus „Kaltstart“ ist dabei „Kaltstart Pro“ geworden: die Plattform für den Profi-Nachwuchs der Stadt- und Staatstheater.

Damit ist aus dem Kaltstart-Festival längst das größte Theaternachwuchsfestival im deutschsprachigen Raum geworden. In 80 Produktionen, bei Konzerten und auf Partys an elf Spielorten präsentieren sich SchauspielerInnen, RegisseurInnen, DramaturgInnen, TheatermusikerInnen und AutorInnen bis Anfang Juli. Letztere sind dabei mit der Theaterliteratur-Sparte Autorenlounge nun zum festen fünften Standbein des Festivals geworden.

Dem zu Beginn so selbstbewusst formulierten Anspruch ist aber auch das sechste Kaltstart treu geblieben: zu gewinnen gibt es auch in diesem Jahr statt Preisen und Auszeichnungen nur die Gunst von MitstreiterInnen, KollegInnen, KritikerInnen und Publikum. Dafür gibt es jede Menge Raum, sich ausprobieren und voneinander zu lernen. Schließlich findet Theater immer gerade jetzt statt. Wie in „The Tragedy Formerly Known as Hamlet“ des Hildesheimer Kollektivs Gianni Castellucci: das versucht sich daran, einen zeitgemäßen und persönlichen Hamlet hervorzubringen und darzustellen – in einer zum Teil durchstrukturierten und zum Teil offenen Aufführungssituation. Damit selbst beim meistgespielten Stück aller Zeiten mal niemand weiß, wie es ausgeht.

■ Hamburg: Mo, 13. 6. bis So, 3. 7., diverse Orte, Infos und Programm: www.kaltstart-festival.de